Ein Quintett mozartscher Prägung

Ein reifes Meisterwerk neu aufgelegt, mit besonderer Berücksichtigung der letzten Entstehungsphase.

«Frühling» heisst die Assoziation, welche Brahms‘ Zeitgenossen, namentlich Clara Schumann, mit diesem Quintett verbanden. Sogar der Brahms gegenüber sonst ablehnend eingestellte Hugo Wolf gelangte beim Erklingen des ersten Satzes «in eine freie, sonnige Aue, worin sich’s an der Hand des kundigen Komponisten gar herrlich erging». Bereits 1860, gut zwanzig Jahre zuvor, hatte sich Johannes Brahms in der Gattung Streichquintett, damals mit zwei Violoncelli, versucht. Daraus wurden das Klavierquintett f-Moll op. 34a und die Sonate f-Moll für zwei Klaviere op. 34b.

Im Frühling 1882, in Bad Ischl, fühlte er sich der Gattung ganz gewachsen, und zwar in deren mozartscher Prägung mit zwei Bratschen. Entstanden ist ein Meisterwerk, welches heute an der Seite der Streichquintette von Wolfgang Amadeus Mozart seinen Platz hat. Kaum aus dem Druck, im Januar 1883, wurde es von namhaften Ensembles aufgeführt und vom Publikum in mehreren Musikmetropolen begeistert aufgenommen. Seine vollendete Form und der heitere Charakter, der nur an wenigen Stellen von elegischen oder dramatischen Passagen abgelöst wird, haben wohl zu diesem einmaligen Siegeszug beigetragen. Originell ist auch das Formexperiment der Kombination des langsamen Satzes mit dem Scherzo: Drei Grave-Teile (Zitat einer frühen Klavier-Sarabande) umrahmen zwei schnelle 6/8- bzw. Alla-breve-Abschnitte, auch sie eine frühere Gavotte für Klavier von Johannes Brahms.

Kathrin Kirsch, Professorin für Musikwissenschaft in Kiel und Betreuerin dieser Urtext-Ausgabe, hat sich bereits in früheren Schriften als Brahms-Spezialistin einen Namen gemacht. Ihr besonderes Augenmerk galt bei dieser Veröffentlichung dem späten Stadium der Werkentstehung, von der Stichvorlage zum Erstdruck. Vorabzüge, d. h. gedruckte Abzüge eines Werks vor der Herstellung und dem Vertrieb des Auflagendrucks, erlauben Rückschlüsse auf Brahms‘ Arbeitsweise in dieser späten Entstehungsphase. Handschriftliche Eintragungen zeigen, wie er kompositorisch differenzierte und den Notentext redaktionell vereinheitlichte. Dass beim Streichquintett Nr. 1 F-Dur op. 88 in diesem Prozess auch der Lektor Robert Keller und der Verleger Fritz Simrock eine gewichtige Rolle spielten, dokumentiert Kathrin Kirsch anhand zahlreicher Briefpassagen.

Das vorliegende Urtext-Stimmenmaterial ist nicht nur hervorragend recherchiert und kommentiert, es ist auch aufgrund des grossen Formats und des augenfreundlichen Schriftbilds gut lesbar. Auf eine technische Einrichtung mit Fingersätzen und Bogenstrichen wurde verzichtet. Zur Vermeidung von Panik beim Seitenwenden sind der erste und zweite Satz auf drei nebeneinanderliegende Seiten gedruckt. Das erleichtert das Einstudieren und die Aufführungen dieses technisch anspruchsvollen, aber wunderschönen Werks enorm!

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Johannes Brahms: Streichquintett Nr. 1 F-Dur op. 88, hg. von Kathrin Kirsch, Stimmen: HN 1482, € 35.00; Studienpartitur: HN 7482, € 12.00; G. Henle, München

Bild oben: wikimedia commons

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