Das Bekannte neu entdecken

Acht Aufsätze stellen den Komponisten Heinz Holliger vor – in aller Breite.

Heinz Holliger. Foto (Ausschnitt): Priska Ketterer/Schott Music

«Ich entdecke täglich unendlich viele neue Klänge, ganz ohne Strom. Es ist auch unökologisch, so viel Strom zu verbrauchen.» Vieles kann man ablesen in nur wenigen Worten. Heinz Holliger hat Witz, der ihm – die Sätze stammen aus dem Jahr 2022 – auch in höherem Alter und in unseren dystopischen Zeiten nicht abhandenkommt. Das tägliche Entdecken neuer Klänge verweist wiederum auf Holligers ungebremste Inspiration, die auf einem breiten Bildungshorizont beruht, auch möglich wurde durch ein etwas «sonderliches» Denken, das Künstlern in der Regel gut steht.

Der Sammelband Heinz Holliger bringt nicht viel Neues zur Sprache. Aber dafür überrascht er mit einer breiten Betrachtung des Komponisten: Chorwerke analysiert Heidy Zimmermann, Betreuerin des Holliger-Archivs in der Paul-Sacher-Stiftung. Tobias Eduard Schick nähert sich den Streichquartetten, Jörn Peter Hiekel ebenso einfühlsam der Oper Lunea, Thomas Meyer dem unbefangenen und erfrischenden Umgang mit Schweizer Volksmusik und Mundart. Gattungsübergreifend zeigt sich: Holliger ist zwar ein Kind seiner Zeit, indem er sich intensiv mit musikalischer Dauer und Dichte beschäftigt, auch mit Spuren des Serialismus oder mit Fragen unbestimmter Notation. Letztlich entscheidet bei ihm aber nicht das «Was», sondern das «Wie» – oder mit den Worten Helmut Lachenmanns, die Hiekel zitiert: Stets geht es Holliger um die Möglichkeiten, «auch das Bekannte neu zu entdecken».

Vielleicht vermisst manch ein Leser Informationen über den Oboisten, den auch versierten Pianisten und Dirigenten. Dennoch sind die 182 Seiten über den «musikalischen Universalisten» (so der Herausgeber Ulrich Tadday) unbedingt lesenswert – zumal sie en passant viele erhellende Blicke öffnen auf die Schweizer Musikgeschichte. Für sein Heimatland hatte Holliger übrigens auch überraschende Worte parat: «Gleichzeitig hat die Schweiz etwas Verrücktes an sich – ich sage oft, die grössten Schweizer haben im Irrenhaus gelebt.» Nun denn, auch er ist ein grosser Schweizer. Zum Glück geht es ihm gut. Physisch und offenbar auch psychisch.

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Heinz Holliger, hg. von Ulrich Tadday, Musik-Konzepte Heft 196/197, 197 S., € 38.00, Edition Text+Kritik, München 2022, ISBN 978-3-96707-600-4

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