Zu allen Belangen des Orchesters

Orchester und Ensembles weltweit, Geschichte und Aufführungspraxis, Komponisten und Dirigenten sowie Orchesterpraxis – zu all dem gibt das «Lexikon des Orchesters» Auskunft.

Eigentlich ist es eine wunderbare Idee, dem Orchester eine umfangreiche Enzyklopädie zu widmen. Der Laaber-Verlag, der sich dieser Herausforderung gestellt hat, entschied sich, sowohl Artikel über einzelne Orchester, Länder, Dirigenten und Dirigentinnen, Instrumente und Sachthemen (z. B. Arbeitsvertrag, Generalmusikdirektor, Leihmaterial, Probespiel oder Taktstock) aufzunehmen, aber auch solche über Komponistinnen und Komponisten, die für Orchester geschrieben haben. Verfasst wurden die Artikel von weit über 200 Beteiligten. Aufgrund der Themenvielfalt ergeben sich rund 1500 Seiten, die auf zwei schwergewichtige Bände verteilt sind. Leider sind die Beiträge aber qualitativ sehr unterschiedlich.

Wenn man die Komponistenbiografien etwas genauer studiert, finden sich Passagen, die nicht überzeugen. Der Autor des Artikels über Charles Koechlin schreibt etwa, dass die Liebe zur elsässischen Volksmusik dessen Musik präge, was aber nicht zutrifft. Mehrere Werktitel von Koechlin sind falsch geschrieben, dafür wird auch noch ein Werk genannt (Les temples), das es gar nicht gibt. Eher unverständlich ist die Beobachtung: «In seinen Orchesterwerken verwendet Koechlin häufig kontrapunktische Verfahren bis hin zum Kontrapunkt mit komplexen akkordischen Gebilden.»

In anderen Artikeln stehen Binsenwahrheiten wie «Bewusst verleiht er überdies jedem seiner Stücke ein ganz eigenes Gesicht» (Peter Eötvös) oder diskutable Schlussfolgerungen wie «Suks kompositorisches Vermächtnis Epilog beeindruckt hingegen besonders hinsichtlich der konsequent der Moderne zugewandten Tonsprache, womit er zugleich normativen Vorstellungen von Spätwerken widerspricht» (Josef Suk). Ob einem im Artikel über Franz Schreker die Feststellung «Profane Topoi verschleiern bei Schreker oft die Trennung von artifizieller und funktionaler Musik und suggerieren neue szenische Kontexte» wirklich weiterhilft, bleibe dahingestellt.

Dass in den Werkverzeichnissen die Stücke oft sehr subjektiv ausgewählt sind, kann man noch nachvollziehen, dass aber zum Beispiel bei Peter Eötvös, Kaija Saariaho, Georg Friedrich Haas oder Erkki-Sven Tüür keine Werke nach 2014 erwähnt sind, macht das Lexikon nicht gerade aktuell.

Selbstverständlich enthält das Lexikon viele Dirigentenlebensläufe. Wie ist es aber zu erklären, dass von drei der bedeutendsten tschechischen Dirigenten, nämlich Václav Talich, Karel Ančerl und Václav Smetáček, keine detaillierten Biografien abgedruckt sind? Ein Teil des Textes zu Teodor Currentzis könnte mit seinem überschwänglichen Lob einem Werbeprospekt entnommen sein: «Ohne Taktstock, mit ursprünglicher, eruptiver Gestik fordert Currentzis bedingungslose Hingabe an Ernst und Wahrheit der Musik ohne Rücksicht auf Traditionen und Hörgewohnheiten.»

Besonders gespannt ist man in einem Lexikon des Orchesters auf die Artikel über die einzelnen Orchester und die Orchesterkultur in verschiedenen Ländern. Hier gibt es natürlich eine Fülle an Informationen, besonders, was die deutschen Orchester betrifft. Unnötig viele Namen sind aber falsch geschrieben (Beispiele: Frank von Hoesslin statt Franz von Hoesslin, Toshiyuki Kamioki statt Kamioka, beide frühere GMD in Wuppertal). Dass der tschechische Dirigent Jiří Bělohlávek 2017 verstorben ist, müsste in einem 2021 erschienenen Lexikon erwähnt werden, wie auch die Tatsache, dass die Dresdner Philharmonie bereits seit 2017 in einem neuen Konzertsaal innerhalb des Dresdner Kulturpalastes auftritt. Den Details in den Orchesterartikeln ist ebenso wenig zu trauen. So wird etwa behauptet, dass Henzes Symphonie Nr. 7, ein Auftragswerk der Berliner Philharmoniker, vom RSO Stuttgart uraufgeführt worden sei. Viele Chefdirigentenwechsel am Ende der 2010er-Jahre sind in den entsprechenden Orchesterartikeln ebenfalls nicht erwähnt, was die Relevanz des Lexikons doch ziemlich schmälert.

Wenn man sich für die norwegische Musik- und Orchesterkultur interessiert, wird man mit sehr unbefriedigenden Informationen abgespeist. Die wichtigen Orchester seien Oslo Filharmonien mit 69 Mitgliedern (in Wirklichkeit sind es aber 108), das Norwegische Rundfunkorchester, das Sinfonieorchester von Kristiansund (ein 1919 gegründetes Amateurorchester) und das Orchester der Norwegischen Nationaloper. Nicht erwähnt werden die mindestens ebenso bedeutenden Orchester von Bergen, Stavanger, Trondheim, Tromsø/Bodø und Kristiansand (nicht zu verwechseln mit Kristiansund).

Nicht besser ergeht es aber der Schweiz: Ausführlich beschrieben werden nur das (bis 1987 existierende) Basler Kammerorchester (nicht zu verwechseln mit dem Kammerorchester Basel), das Orchestre de la Suisse Romande und das Tonhalle-Orchester Zürich. Besonders kärglich – und ausserdem veraltet oder einfach falsch – sind die Angaben über die Orchester im Kanton Bern: «Seit 1877 gibt es Das Berner Symphonieorchester; 2011 wurden das Orchester sowie das Stadttheater Bern in der Stiftung Konzert Theater Bern zusammengeführt. Seit 2010 hat Mario Venzago die Position des Chefdirigenten inne. Im Jahr 2012 fusionierten die 1969 gegründete Sinfonie Biel Solothurn mit dem Orchester Theater Biel Solothurn zum Sinfonie Orchester Biel Solothurn. Seit dem Jahr der Fusion wird das Orchester von Kaspar Zehnder geleitet.»

Da auch einige Artikel über Sachthemen und Instrumente von Autoren und Autorinnen verfasst wurden, die sich mit ihrem Thema nur oberflächlich beschäftigt haben, kann das Lexikon des Orchesters in mancher Hinsicht nicht überzeugen.

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Lexikon des Orchesters. Orchester und Ensembles weltweit, Geschichte und Aufführungspraxis, Komponisten und Dirigenten, Orchesterpraxis, hg. von Frank Heidlberger, Gesine Schröder und Christoph Wünsch, 2 Bd. mit zus. 1488 S., € 198,00 (bis 31.12.2022), Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-551-8

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