Nägeli, der Sängervater – welch ein Irrtum!

Miriam Roner zeigt in ihrem Buch, dass das landläufige Bild dem vielseitigen Hans Georg Nägeli nur unzureichend gerecht wird.

Hans Georg Nägeli, Stich nach Georg Balder um 1830. Quelle: Gallica

Hans Georg Nägeli (1773–1836) gilt als der Schweizer Sängervater. Mit dieser Vorstellung ist die Musikwelt seit fast zwei Jahrhunderten konfrontiert. Das zweifelhaft vaterländische Attribut hatten ihm die Schweizer Sängervereine verpasst und damit ein Bild des umtriebigen Nägeli kreiert, das keiner seriösen Betrachtung standhält. So wartet man seit vielen Jahren auf eine Biografie, auf ein Korrigendum dieser einseitigen, wahrheitswidrigen Darstellung des «Pioniers in allen Gassen».

Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts hat sich die junge Musikwissenschaftlerin Miriam Roner der schier unlösbaren Aufgabe angenommen, Licht ins Dunkel zu bringen. Die bereits 2016 an der Universität Bern als Dissertation angenommene Arbeit hat sie nun gründlich überarbeitet, um sie als über vierhundert Seiten starkes Buch zu veröffentlichen. Schon nach kurzer Lektüre wird klar, welche Mammutarbeit dahintersteckt, denn ausser einigen lexikalischen Artikeln und Festschriften existiert nichts Umfassendes zu Nägeli.

Roner legt keine Biografie vor, aber sie zeigt eindrücklich, auf wie vielen Hochzeiten Nägeli getanzt hat: Er war Verleger, führte eine Noten(leih)bibliothek, komponierte Gebrauchsmusik, gründete und leitete ein Singinstitut, das nach pestalozzischen Regeln zur Bildung beitragen sollte und liess dabei auch Mädchen und Frauen zum Zug kommen.

Nur schon diese Vielfalt zeigt, wie umfassend Nägeli dachte. Roner versucht in diesem Dickicht aufzuschlüsseln, wie das «System Nägeli» funktionierte. Es gab um 1800 keine Vertriebskanäle, keine Banken, über die Zahlungen abgewickelt werden konnten. So entwickelte Nägeli verschiedene Vorgehensweisen, er vertrieb Noten von französischen oder deutschen Verlagen als Gegengeschäft für die Annahme seiner eigenen Werke, er bestellte Partituren zum Kauf, als Kommissionsverlag oder auf Leihbasis, um sie an Bürger weiterzuverleihen.

Nägeli hat nie eine umfassende Ausbildung als Musiker, Komponist oder Geschäftsmann genossen. Wohl war es neben den napoleonischen Kriegen diesem Umstand geschuldet, dass er viel anregte, aber auch scheiterte – sein Verlag ging Konkurs und er verkaufte an Adolf Hug. Der Hug-Verlag war geboren.

Trotzdem hat der Pionier Nägeli Eindrückliches geleistet, wie Roner aufzeigt. Im pädagogischen Bereich hat er die Jugend, bei der er auch die unteren Volksschichten berücksichtigte, systematisch mit klug aufgebauten Lehrbüchern an die Musik herangeführt. Oft vergessen wird auch, dass Nägeli den Frauen genauso viel Aufmerksamkeit schenkte, wie den Männern.

Am interessantesten in Roners Recherchen sind der zweite Teil, der «Nägeli als Musikalienhändler und Musikverleger» gewidmet ist, und der dritte Teil zum «Sing-Institut». Wertvoll ist der ausgedehnte Anhang mit einer ausführlichen Chronik und einem umfassenden Quellenregister. Die Grundlagen für eine weitere Erforschung und Belebung dieses Pioniers sind gelegt.

Miriam Roner: Autonome Kunst als gesellschaftliche Praxis. Hans Georg Nägelis Theorie der Musik, 427 S., € 73.00, Franz-Steiner-Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-515-12701-1

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