Unerwartetes bei Brahms

Johannes Schild legt in seinem Buch dar, dass auch die Sinfonien des «progressiven» Brahms versteckte Botschaften und Bedeutungen in sich tragen.

Brahms‘ Musikzimmer in seiner letzten Wohnung an der Karlsgasse 4 in Wien. Pastelkreidezeichnung von Carl Müller, dat. 1906. Quelle: Dorotheum/wikimedia commons

Wer sich beim Zitat im Titel des vorliegenden Buches an Gustav Mahler erinnern wollte, hätte sich geirrt, würde aber zuallerletzt bei Brahms versteckte Botschaften erwarten. Arnold Schönberg hatte ihn gerade deswegen als den «Progressiven» an die Spitze der damaligen Moderne gesetzt, weil sein Komponieren der «tönend bewegten Form» von Hanslick entsprach und die mit Literatur gesättigten «sinfonischen Dichtungen» eines Liszt und Strauss hintanstellte.

Schönberg würde heute staunen, wenn er das Buch von Johannes Schild in die Hand bekäme, wo der Autor in den vier Sinfonien von Brahms viele verborgene Mitteilungen eruiert, die Verbindungen zu Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Liszt u. a. herstellen. Dass nicht nur Mahler, sondern auch Brahms die Sprachfähigkeit der Musik genutzt hat, um über sich und sein Schaffen selbst ins Klare zu kommen, verblüfft bei jedem neuen Fall, den Schild stilsicher und verständlich zu erklären versteht, und dies nicht nur jener Leserschaft, die in der Lage ist, die vielen Notenbeispiele entsprechend auszuwerten.

Die satzübergreifenden Beziehungen in den Sinfonien an sich sind schon interessant, noch ergiebiger sind die werkübergreifenden und jene, die über Musikepochen hinweg Verbindungen herstellen. Ausgehend von Bachs E-Dur-Fuge erschliesst sich über das Finalthema von Mozarts Jupiter-Sinfonie ein ganzer Fächer von Bezügen bis hin zum Schicksalslied.

Besonders verblüffend sind in einem anderen Zusammenhang die Meistersinger-Aspekte, die Tristan-Anklänge oder die musikalischen Hinweise auf den «milchjungen Knaben» Felix, der allenfalls der aus seiner intimen Nähe zu Clara Schumann hervorgegangene uneheliche Sohn von Johannes Brahms sein könnte.

Mit dreihundert Musikbeispielen, sechzig Seiten Anmerkungen und vierundzwanzig Seiten Bibliografie untermauert das Buch die überraschende Fülle von kompositorischen «Innereien», aber auch aussermusikalischen Einflüssen, wie man sie gerade bei Brahms nicht erwartet hätte.

Johannes Schild: «In meinen Tönen spreche ich» – Brahms und die Symphonie, 443 S., € 49.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2022, ISBN 978-3-7618-2525-9

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