Dringende Fragen sanft gestellt

Die Pianistin Simone Keller hat Musik von Komponistinnen und People of colour vor allem aus den USA und der Schweiz eingespielt. Ein weiterführendes Buch beleuchtet die Kompositionen und die Hintergründe.

Simone Keller. Foto: Palma Fiacco

«100 minutes of piano music from the last 100 years in the context of social inequality and unequal power relations» verspricht die Doppel-CD der Thurgauer Pianistin Simone Keller. Entstanden ist eine höchst heterogene und diverse Anthologie mit strukturell benachteiligter Musik von Komponistinnen und People of colour, vor allem aus den USA und der Schweiz. Ungleichheit in der Musikgeschichte ist ein brisantes Thema, nur hört man sie den einzelnen Stücken natürlich nicht an. Denn wenn sie so wunderbar interpretiert werden wie hier, fragt man sich wieder einmal, was denn da alles schiefgelaufen ist.

Einige Persönlichkeiten wie Ruth Crawford Seeger oder zuletzt auch Julius Eastman gehören zwar mittlerweile in jeden Grundkurs für neuere Musik. Anderes aber ist zu entdecken, etwa die St. Galler Dichterin und Komponistin Olga Diener (1890–1963), deren Texte Hermann Hesse als «viel zu sehr Traum und viel zu wenig Dichtung» umriss. Ihre «Geheimsprache», so Hesse auch, spricht aber gerade heute wieder durch ihre eigenartigen Wendungen.

Es ist, trotz des Backgrounds, keine aufrührerische, sondern eine eher ruhige Anthologie geworden. Auch Neues ist darunter: das sich langsam entfaltende Stück Black/blackness: After Mantra(s) für Klavier und Elektronik von Jessie Cox, das Fragen der Klimakrise berührt. Oder aber ein Richtig Schottisch der aus der Volksmusikerfamilie stammenden Cristina Janett. «Die Volksmusik mit ihren vielfältigen Einflüssen entdeckte ich viel später», schreibt die aus einer Bauernfamilie stammende Pianistin Keller, «und es wurde mir erst in der Zusammenarbeit mit Cristina Janett bewusst, wie sehr sie Teil meiner Identität ist.» Gerade solche Bewusstwerdungsprozesse sind hier zentral.

Schliesslich ist da die Komponistin Irene Higginbotham (1918–1988), bekannt oder eben kaum bekannt dafür, dass sie den Song Good Morning Heartache für Billie Holiday schrieb. Dreimal taucht er in diesem Album auf und gibt ihm den Titel wie auch einem Buch, das Simone Keller doppelsprachig deutsch/englisch herausgegeben hat. Es enthält nicht nur weiterführende Texte zu den Kompositionen, sondern erhellt auch den soziokulturellen Hintergrund, vor dem sie entstanden, und führt gleichzeitig darüber hinaus in unsere Zeit. Die Fragen, die hier scheinbar sanft gestellt werden, sind dringend.

Simone Keller: Hidden Heartache. Intakt CD 419

Simone Keller u.a.: Facetten 21 – Hidden Heartache, Kulturstiftung des Kantons Thurgau, 320 S. mit Notenheft, Fr. 32.00, Jungle Books, St. Gallen 2024, ISBN 978-3-033-10349-8

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