Carona, der neue Ort für alte Musik

Im historischen Dorf Carona wurde vor Kurzem ein Musikfestival ins Leben gerufen: alt in Bezug auf das Repertoire, aber ganz neu in Form und Konzept. Die Ideen dazu liefert, sprühend vor Energie, Giulia Genini.

In der italienischsprachigen Schweiz, in der bereits einige wichtige Interpreten barocker Musik zu Hause sind, wurde vor Kurzem eine neue und im besten Sinne des Wortes erfrischende Initiative vorgestellt: CaronAntica. Sie ist sowohl auf der Bühne als auch in Workshops dem alten Repertoire gewidmet. Zu den Unterstützern gehören Diego Fratelli, Professor für die Aufführungspraxis alter Musik am Konservatorium der italienischen Schweiz sowie an der Scuola Civica in Mailand, und die Tessiner Musikerin Giulia Genini, eine der interessantesten Schweizer Interpretinnen der jungen Generation, die bereits mit Ensembles wie I Barocchisti, Il Giardino Armonico, der Accademia Bizantina und den Berliner Philharmonikern zusammenarbeitet. Am Rande von zwei Konzerten im Februar und März, an denen Protagonisten vom Kaliber eines Stefano Barneschi, Konstantin Timokhine, Mirjam Töws und Cristiano Contadin mitwirkten, haben wir Giulia Genini getroffen, um mehr über das Projekt CaronAntica zu erfahren.

Giulia Genini, im Lauf der Jahrzehnte haben viele Künstler, und nicht nur Tessiner, Carona als ihren Wohnsitz gewählt. Wieso? Was sind die charakteristischen, vielleicht sogar einzigartigen Eigenschaften dieses Dorfes?
Carona liegt inmitten einer unberührten und prachtvollen Natur, die von einem goldenen, mediterranen Licht durchflutet wird. Der Ort vereint die Kunst und die Weisheit unserer Vorfahren, die ihn mit einem ausgeprägten Sinn für Harmonie und Schönheit erbaut haben. Mittelalter, Renaissance und Barock haben in den Mauern und Strassen ihre Spuren hinterlassen. Das macht Carona zu einer Art locus amoenus, einem idealen Anreiz zum Nachdenken und für künstlerisches Schaffen.

Eine wichtige Basis Ihres Projekts ist die Casa Pantrovà: ein Ort, den viele Schweizer Musiker gut kennen, wird er doch den Mitgliedern des Tonkünstlervereins zu günstigen Bedingungen als Residenz zur Verfügung gestellt. Wie würden Sie die Casa Pantrovà beschreiben?
Sie ist ein idealer Ort, um Ideen zu sammeln, sich zu konzentrieren und um Neues zu erschaffen. Eingebettet im Grünen und am Rand des historischen Ortskerns gelegen, bietet die Casa Pantrovà eine für die Konzentration ideale Abgeschiedenheit. Trotzdem ist das Dorf mit wenigen Schritten erreichbar.

In der Präsentation von CaronAntica wird ein «dynamisches Konzertkonzept» erwähnt. Was bedeutet das?
Unsere Konzerte werden während längerer Aufenthalte der Künstler in Carona konzipiert und vorbereitet. Die Musiker leben also für eine gewisse Zeit im Dorf, und lassen sich durch den Ort inspirieren: eine erste Dynamik liegt in dieser Idee der «Osmose». Dann ist ganz Carona eine grossartige Bühne – der Hauptplatz, die Loggia, viele schöne alte Kirchen – und bietet Veranstaltungsräume, die es zu erkunden gilt. Schliesslich suchen wir bei den eigentlichen Konzerten die Nähe zum Publikum mittels Präsentationen, Kommentaren und/oder durch eine besondere Aufstellung der Musiker im Raum. So soll das traditionelle Konzertschema durchbrochen werden, das üblicherweise Publikum und Musiker physisch trennt, anstatt sie in einem einzigen emotionalen Atem zu vereinen.

Ihr Projekt konzentriert sich auf alte Musik. Eine schwer zu fassende Kategorie. Ist das, was vor dreissig Jahren als «alte Musik» bezeichnet wurde, dasselbe, was wir heute darunter verstehen?
Alte Musik ist ein völlig natürliches Repertoire und deshalb faszinierend und aktuell, denn aktuell ist alles, was mit der Abgehobenheit und Künstlichkeit der heutigen Gesellschaft kontrastiert. Unterschiede zwischen der alten Musik von vor dreissig Jahren und heute? Ich würde sagen, Wiederentdeckung und dann Entwicklung, Vertiefung: CaronAntica umfasst das gesamte mit sogenannten Originalinstrumenten aufführbare Repertoire und sucht nach der wahrhaften Stimme einer Epoche, sei es diejenige des Mittelalters, der Renaissance, des Barock, des Klassizismus oder der Romantik.

Ihre Tätigkeit als Musikerin hat sich entwickelt und entwickelt sich noch weiter, oft im namhaftesten Umfeld und sowohl nördlich als auch südlich der Alpen. Unterscheidet sich das germanische und das lateinische Verständnis der heutigen Interpretation von alter Musik in irgendeiner Weise?
Natürlich gibt es Unterschiede, aber ich würde sie nicht zu einem Klischee machen, das auf den Breitengrad zurückzuführen ist. Sie sind vielmehr eine natürliche Folge der menschlichen Vielfalt. Ich finde es sehr faszinierend, mit verschiedenen Persönlichkeiten zusammenzuarbeiten und vielfältige Möglichkeiten zu entdecken: Es kommt immer wieder vor, dass ich schon des Öfteren gespielte Partituren aus einer völlig neuen Perspektive wahrnehme, bisher noch unbekannte Details und Nuancen entdecke.

Was ist der Unterschied zwischen der Planung eines einzelnen Programms als Musikerin und dem Konzipieren eines ganzen Musikfestivals als künstlerische Leiterin?
Eigentlich gibt es viele Gemeinsamkeiten. Was im einen Fall auf eine Aufführung von einer Stunde konzentriert ist, dehnt sich im andern auf eine längere Zeitspanne aus, aber das Prinzip bleibt sich gleich. Man sucht konkret oder ideell nach einem Zusammenhang, einem roten Faden, um den musikalischen Diskurs zu thematisieren und um das richtige Gleichgewicht zwischen Kontinuität und Diversifizierung zu finden. All das bildet eine Intensitätskurve, eine Klimax, immer mit dem Ziel, höchste Ansprüche zu erfüllen.