Vielseitig recherchiertes Know-how des Klarinettenspiels

Das Projekt «Clarinet Didactics» stellt Werkzeuge zur Grundtechnik für Studium, Lehre und Performance online zur Verfügung. Heinrich Mätzener, Klarinettist und Professor an der Hochschule Luzern, erläutert es im Gespräch mit Robert Stempfle.

Heini, Du hast mir kürzlich von einem Projekt erzählt, das Dich im Rahmen deiner Professur stark beschäftigt. Worum geht es?
«Clarinet Didactics»vermittelt auf einer Wikipedia-Plattform didaktisches Wissen zur Grundtechnik des Klarinettenspiels. Die Quellen, die ich dazu nutze, sind Interviews mit namhaften Professoren aus der Schweiz, Deutschland, Österreich, Frankreich und aus den USA, historische und aktuelle Unterrichtswerke sowie ausgewählte Beiträge aus dem Internet. Das Wiki ist online allen Interessierten zugänglich und möchte Lösungsansätze für Unterricht, Studium und Performance vermitteln. Den Auftrag dazu gab das Kompetenzzentrum Forschung Musikpädagogik der HSLU -Musik.

Die Seite ist bereits online. Die bearbeiteten Themenfelder sind umfangreich und komplex. Hast Du in der Auswahl eigene Schwerpunkte setzen können oder gab es bestimmte Vorgaben?
Die Themen im Wiki folgen den Parametern der Grundtechnik wie Ansatz, Artikulation, Atmung etc. Beim Zusammenstellen orientierte ich mich an der gängigen Unterrichtsliteratur, habe aber auch die «Méthodes» und «Anweisungen» des 18. und 19. Jahrhunderts einbezogen. Der historische Aspekt hat im Laufe der Arbeit an Bedeutung gewonnen. Am faszinierendsten waren der Austausch und die spontane Bereitschaft der Interviewpartner, an diesem Projekt mitzuwirken.

Wer waren diese Interviewpartner?
Es sind renommierte Musikerinnen und Musiker, die meist an Hochschulen oder französischen Conservatoires unterrichten. Sie arbeiten mit Studenten, aber auch mit Anfängern und Schülern der Mittelstufe. Insgesamt konnte ich26 Interviews durchführen bei ungefähr gleicher Berücksichtigung des deutschen, französischen und amerikanischen Sprachraums.

Der Umgang mit verschiedenen, sich vielleicht gar widersprechenden Lehrmeinungen erfordert sicher viel Differenzierungsvermögen. Wie bist Du damit umgegangen?
Viele didaktische Ansätze stehen einander sehr nahe, werden aber unterschiedlich formuliert. Darin sehe ich den Gewinn dieses Projektes: Es will ein möglichst weit gefasstes didaktisches und methodisches Vokabular für den Unterricht zur Verfügung stellen. Bei den Themen Artikulation und Atmung gab es während den Interviews immer wieder Momente, die sich bestens als Ausgangspunkt für Diskussionen geeignet hätten. Ich habe mich aber bewusst immer zurückgehalten, denn es ging darum, die Lehrmeinung meiner Interviewpartner aufzuzeichnen und weitergeben zu können.

Was hat Dich als Studenten in die USA zu Robert Marcellus geführt und fielen Dir damals schon Unterschiede in den Lehrmeinungen zu Europa auf?
Ich brauchte nach dem Studium weiteres Coaching für Probespiele. Die legendäre Aufnahme von Robert Marcellus mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell mit dem Mozart Klarinettenkonzert hat mich dann an die North-Western Uni nach Evanston geführt. Nach diesem ergänzenden Unterricht war ich ein paar Wochen später erfolgreich am Probespiel für die Stelle an der Oper in Zürich. Besonders fasziniert hat mich in Marcellus’ Unterricht – er war damals schon erblindet –, dass er mir präzise Anweisungen geben konnte, wie ich mit bestimmten Veränderungen in der Ansatzformung und Ausformung der Mundhöhle klangliche Verbesserungen erreichen konnte.

Kannst Du ein Beispiel für einen didaktischen Ansatz nennen, den Du erforscht hast?
Die Ansatzformung. Dazu möchte ich etwas weiter ausholen: Im letzten Jahr habe ich bei der Arbeit an «Clarinet Didactics» den Fokus auf die alte Französische Schule gerichtet. Ihr typisches Merkmal war der Doppellippenansatz: Die Oberlippe, nicht die Zähne berühren das Mundstück. Der Widmungsträger der Debussy-Rhapsodie, Prosper Mimart, spielte und unterrichtete diese Technik, auch Gaston Hamelin, sein Schüler, spielte die erste Aufnahme 1931 noch mit Doppellippenansatz ein. Er war einer der Lehrer aus Frankreich, die in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Technik unterrichteten. Diese Linie wollte ich weiterverfolgen. So konnte ich ein Interview mit John Moses führen, dessen Lehrer, Joe Allard, Schüler von Hamelin gewesen war. Die meisten der weiteren Interviewpartner hatten Unterricht bei Daniel Bonade. Auch er studierte in Paris bei Prosper Mimart. Bonade kam um 1916 nach Philadelphia. Er wechselte seine Ansatztechnik im Laufe seiner Karriere zum «normalen» Ansatz. Viele der renommierten Klarinettisten in den grossen Orchestern der USA waren Schüler von Bonade, so dass er als einer der Begründer der Amerikanischen Schule gilt. Anlässlich einer Reise nach Paris um 1950 war er über den dortigen Stil sehr erstaunt, konnte nicht glauben, dass sich die Französische Schule in Paris klanglich derart anders entwickelt hatte. Es gab dort einen klaren Bruch, einen Wechsel zum einfachen Ansatz, wahrscheinlich in den Vierzigerjahren. Die Méthode von Eugène Gay (1932) lässt noch offen, welche der beiden Ansatzarten zu verwenden sei.
Der Doppellippenansatz verändert die Innenform der Mundhöhle, der weiche Gaumen hebt sich und die Zunge rollt sich etwas nach oben, der Mundboden spannt sich nach unten. So ergibt sich für die Tonbildung eine vorteilhafte Konstellation.

Gibt es Erkenntnisse, die Dich verblüfft haben?
Es ist erstaunlich, dass in den USA die Auseinandersetzung mit dem Doppellippenansatz heute noch gepflegt wird, weniger in der Konzertpraxis, aber oft als Mittel der Tonbildung. Die Basis der Ansatzformung kann dadurch immer wieder kontrolliert und gestärkt werden. Diese Konstellationen auf den normalen Ansatz zu übertragen, ist eine Methode, die in den USA noch praktiziert wird. Ich kannte das auch von meinem Lehrer Hans-Rudolf Stalder, er war Schüler von Louis Cahuzac, der seinerseits noch bei Cyrille Rose studierte (Rose gehörte zur Generation vor Prosper Mimart).

Haben sich bei Deiner Recherche Unterschiede zwischen dem französischen und deutschen Klarinettensystem gezeigt?
Dieser Frage ist Stephanie Angloher, besonders was den Klang betrifft, in ihrer umfangreichen Studie (2007) nachgegangen. Es gab einige bemerkenswerte Parallelen in französischen, deutschen und amerikanischen Interviews, was die Atemtechnik oder auch die Vokalisierung, gemeint ist die Ausformung des Mundinnenraums, betrifft. Erstaunt hat mich, dass sich die «neue» und die «alte» Französische Schule klanglich deutlich unterscheiden, was zwei Aufnahmen aufzeigen: Prosper Mimart ca. 1920, Schubert, Der Hirt auf dem Felsen, und Ulysses Delécluse 1952, Louis Cahuzac, Fantaisie sur un vieil air champêtre. Dieser Unterschied ist eindeutig grösser als derjenige, der heute zwischen dem deutschen oder französischen System wahrnehmbar ist.

Hast Du eine Erklärung dafür, warum sich das Vibrato auf der Klarinette in der sogenannt «ernsten Musik» kaum hat durchsetzen können? Auf allen sonstigen Holzblasinstrumenten wird es eingesetzt, sogar auf dem Saxofon, das auch nur mit einem einfachen Rohrblatt gespielt wird.
Das ist eine gute Frage! Steve Hartman, Solo-Klarinettist im New York City Ballet Orchestra, meinte ironisch, dass sofort Interpol eingeschaltet würde, sollte er mit Vibrato spielen. Wie von Richard Mühlfeld überliefert ist, nutzte er dieses Ausdrucksmittel, und wie die oben erwähnten Aufnahmen belegen, war es bis zirka 1955 vielerorts selbstverständlich, mit Vibrato zu spielen. Ab etwa 1970 ist das Vibrato ausser Mode geraten; wie es scheint, parallel zum sich ändernden Klangideal vom hellen zum dunkleren, heute fast international einheitlichen Klangbild. Das ist aber kein Forschungsergebnis, nur eine subjektive Beobachtung. Viele der Interviewpartner spielen mit mehr oder weniger dezentem Vibrato, z. B. Richard Stoltzman oder John Moses. Letzterer ist stilistisch sehr versiert.

Wie weit ist das Projekt nun gediehen?
Die Interviews sind alle transkribiert und auf dem Wiki greifbar, ebenso wie Zusammenfassungen ausgewählter «Méthodes», «Anweisungen» und Unterrichtswerke. In der grossen Kategorie «Grundtechnik» wird das gesammelte Wissen gebündelt und aufgezeigt, wo sich Lehrmeinungen entsprechen, ergänzen oder auch widersprechen. Das ist die gegenwärtige Aufgabe, auch das Einarbeiten der Links, die zu den Quellen führen. Gleichzeitig werden die Texte mit passenden Bild-, Ton- und Videodateien ergänzt.
Diese Arbeit sollte bis Ende September abgeschlossen sein, das gesamte Projekt bis Ende 2020. Ursprünglich waren nur zwei Jahre geplant, danach wurde mir die Möglichkeit gegeben, das Projekt zweimal zu verlängern. Dafür bin ich dem Forschungsleiter, Marc-Antoine Camp, sehr dankbar. Ich wollte die Chance nutzen, die verborgenen Vorgänge näher zu beleuchten, die sich beim Klarinettenspiel wie bei jedem Blasinstrument im Innern abspielen. Themen also, die in der Unterrichtsliteratur eher wenig ausgeführt werden. Da vieles in Notenschrift notiert ist, bleiben ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Umsetzung offen. Die Feinarbeit findet immer im Kontaktunterricht statt, und die Interviews scheinen mir ein geeignetes Format zu sein, nicht gerade eine Lücke zu schliessen, aber doch die bestehende Unterrichtsliteratur zu ergänzen.

Wenn man auf Wikipedia einen Eintrag machen möchte, muss man gewisse Regeln einhalten. Wie kann das Qualitätsniveau beibehalten werden?
Die frei verfügbare Wikimedia-Software ist auf dem Hochschul-Server installiert. Dort lege ich die Inhalte von «Clarinet Didactics» ab. Die wichtigste Regel, der lückenlose Quellennachweis, ist akademische Vorschrift. Sie bietet dem Leser Gelegenheit, sich in die Materie weiter zu vertiefen: Viele der Quellen sind online greifbar.
In der Wikimedia-Software können interne und externe Links und verschiedene Medien eingearbeitet werden. Es gleicht dem Vielschichtigen des Instrumentalspiels, wo auch das Know-how und die Fertigkeiten zwischen verschiedenen physischen und intellektuellen Ebenen zu koordinieren sind. Im Gegensatz zu einem Printmedium sind die Beträge auch laufend erneuerbar, man kann sie ergänzen, korrigieren oder neu ordnen. Deshalb haben wir uns für diese Publikationsform entschieden.
Nach meiner Pensionierung plane ich, das Wiki weiterzupflegen. Zugangsrechte stehen allen Interessierten offen, müssen aus Sicherheitsgründen aber beantragt werden. Kontakte siehe Impressum.

In welchen Sprachen wird es das Nachschlagewerk «Clarinet Didactics» geben?
Die Interviews bleiben in den Originalsprachen Deutsch, Französisch und Englisch, die Zusammenfassungen in der Kategorie «Grundtechnik» werden vorerst auf Deutsch verfasst. Es ist geplant, diese auf Französisch und Englisch zu übersetzen.
 

Heinrich Mätzener ist Solo Es-Klarinettist in der Philharmonia Zürich, spielt historische Klarinetten in «La Scintilla» und hat eine Professur an der Hochschule Luzern inne.

 

Robert Stempfle ist studierter Klarinettist und gelernter Holzblasinstrumentenmacher – er führt eine Fachwerkstatt für Holzblasinstrumente.