Sorgenkind Schulmusik?

Die musikalische Bildung ist seit zehn Jahren in der Verfassung verankert und an den Fachhochschulen hat die pädagogische Forschung Einzug gehalten. Wie sieht es in der Praxis aus?

Jürg Zurmühle (links) und Roman Brotbeck. Foto: Tabea Bregger
Sorgenkind Schulmusik?

Die musikalische Bildung ist seit zehn Jahren in der Verfassung verankert und an den Fachhochschulen hat die pädagogische Forschung Einzug gehalten. Wie sieht es in der Praxis aus?

Anlässlich seines Rücktritts als Präsident des Verbands Fachdidaktik Musik Schweiz vfdm.ch wurden Jürg Zurmühle und – als Vertreter einer Aussenperspektive – Roman Brotbeck zur musikalischen Bildung in der Schweiz befragt.

Steigen wir ganz konkret ein: Was soll aus eurer Sicht ein zehnjähriges Kind in der Primarschule musikalisch erlebt haben bzw. was soll es in diesem Alter können?

Jürg Zurmühle: Pointiert gesagt, wünsche ich mir keine Standardisierung, sondern dass ein Kind selbst musiziert und unterschiedliche Begegnungen mit musikalischer Kultur, mit musikalischen Handlungen, mit Hören und mit live gespielter, realer Musik gehabt hat. Auch wünsche ich mir, dass in der Schule, im Kindergarten und in der Vorschule den Kindern Möglichkeiten zu Zugängen zu ihrer eigenen Musikalität geschaffen werden. Das heisst nicht, dass wir in erster Linie darauf schauen, was ein Kind mitbringen, können und kennengelernt haben muss, sondern uns fragen, was das Kind schon mitbringt, um damit musikalisch auf unterschiedliche Weisen weiter arbeiten zu können.

Roman Brotbeck: Ich habe wenig Erfahrung mit dieser Zielstufe, aber vielleicht sollte ein Kind das erfahren haben, was für mich für die gesamte musikalische Ausbildung zentral ist: Es sollte hören können, nicht nur Musik, sondern auch die Umwelt. Und es sollte seine «Stimme» – das kann auch ein Instrument sein – als Eigenes und als Gemeinsames erleben. Die Musik ist die einzige Kunst, die das Gemeinsame so künstlerisch und ohne Konkurrenzgefühle umsetzen kann.
 

Es gibt verschiedene Institutionen, unterschiedliche Berufsstände, die sich für diesen gemeinsamen Nenner der Musik, die musikalische Bildung engagieren.
Was braucht es, um im produktiven Miteinander der musikdidaktischen Felder (Spezialistinnen, Spezialisten, Generalistinnen, Generalisten schulisch/ausserschulisch) die musikalische Bildung zu stärken?

Jürg Zurmühle: Ich fokussiere jetzt mal auf das Kind: Da sehe ich den grössten Gewinn, wenn es uns gelingt, die Musikschaffenden und die Institutionen, von den Kulturinstitutionen (und zwar aus allen Bereichen von experimenteller über Pop- und Rockmusik) über die Theater bis zu den Musikschulen und Schulen, zusammenzubringen.
Ich glaube, wir könnten uns in Zukunft stärker darum bemühen, dass alle Akteure noch viel mehr zusammenarbeiten. Aus der Perspektive der Lehrerbildung könnte ich mir vorstellen, vermehrt mit Personen anderer Institutionen, z. B. den Musikhochschulen, zusammenzuarbeiten und gemeinsame Projekte und Kurse zu realisieren. Wir haben an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW ja schon damit begonnen, und ich finde das absolut notwendig.

Roman Brotbeck: Aus meinen Erfahrungen auch in Leitungsfunktionen im Hochschulbereich und anderswo heraus stelle ich fest: Es ist schade, wie viel positive Kreativität verloren geht, indem Institutionen sich gegenseitig voneinander abgrenzen, und wieviel unnötige Energie investiert wird, um ein eigenes Profil zu haben. Ich glaube, dass viel Kreativität verpufft, weil man nicht zusammenarbeiten will. Aber das ist auch innerhalb der Hochschulen so. Das hatte ich auch in Bern an der Hochschule der Künste HKB erlebt, als ich zum Beispiel die Idee einbrachte, unter Hauptfachlehrern vielleicht mal einen Studenten, eine Studentin für eine gewisse Zeit auszutauschen? Nein, das könnte die ganze Ausbildung kaputt machen, wurde mir entgegnet. Mit einem derartigen Isolieren und letztlich einem Misstrauen gegenüber den Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Hochschule lernen die jungen Leute schon dort eigentlich das Falsche.

Jürg Zurmühle: Ich bin da aber auch optimistisch: Auf der Ebene der Institutionen ist es genauso, wie du das erläuterst. Auf der Ebene der Personen finde ich das etwas ganz anderes. Ich habe immer den Eindruck gehabt, wenn wir miteinander als Personen in Kontakt sind, dann ist eine Zusammenarbeit auf jeden Fall einfacher möglich.
 

Verfassungsartikel 67a

Welche Dringlichkeiten seht ihr im Hinblick auf die Musik in der Volksschule, auch bezogen auf den Bildungsartikel 67a? Warum braucht es den Artikel?

Jürg Zurmühle: Ich habe mich persönlich und auch als Präsident des Verbands dafür eingesetzt, dass der im Bildungsartikel erwähnte, sogenannte «hochwertige Musikunterricht» auf der Primarstufe auch wirklich umgesetzt werden kann. Leider wird auf allen Ebenen, von Schulleitungen über die Kantone bis zum Bund, die Zuständigkeit dafür hin und her geschoben, ohne dass wirklich etwas Konkretes geschieht.

Eine weitere Ebene ist die Lehrerbildung, wo ich aus der Perspektive der Musik wirklich unerfreulich finde, dass die Studierenden für die Primarstufe das Fach Musik abwählen können resp. müssen. Das ist etwas, was ich selber so ganz klar nicht vorschlagen würde. Musik muss von allen zukünftigen Lehrpersonen unterrichtet werden können. Eine andere Sache ist, dass an den Pädagogischen Hochschulen grundsätzlich die Fachlichkeit zu kurz kommt. Ich würde mehr Wert und Zeit auf die fachliche Ausbildung legen. Oder – das hatten wir früher – Studierende müssen eine Aufnahmeprüfung machen, um auch ihre fachlichen Fähigkeiten zu zeigen.

Wir haben aber auch sehr viel Kompetenz in den verschiedenen Institutionen. Wir sollten versuchen, diese Kompetenzen, diese Kreativität von vielen Menschen in der Ausbildung der Lehrpersonen zusammenzubringen. Das muss nicht immer nur alles strukturell fixiert sein, sondern ich kann mir gut vorstellen, zum Beispiel in Studien- und Intensivwochen, die ausserhalb des Curriculums sind, Musik zu machen, zu lehren und zu lernen. Mit dem Bologna-System, mit dem Sammeln von Creditpoints, wird das meiner Meinung nach erschwert. Es geht eigentlich darum, Freiräume zu ermöglichen, institutionelle Freiräume, um denjenigen Studierenden, die sich musikalisch «bilden wollen», offene Angebote zur Verfügung zu stellen. Auch was wir mit «Jugend und Musik» anstreben, finde ich wichtig: Dass Leute, die wirklich viel mitbringen, auch die Möglichkeit haben, sich entsprechend weiter zu qualifizieren, um dann eben auch ihren Weg musikalisch gehen zu können.

Roman Brotbeck: Der Bildungsartikel 67a ist sehr wichtig, weil er den Musikunterricht valorisiert und nicht als «nice to have» versteht. Vor allem folgender Satz ist zentral: «Die Kantone setzen sich für einen hochwertigen Musikunterricht ein.» Es ist ein Armutszeugnis für die Kantone, dass sie sich seit zehn Jahren um die Definition eines hochwertigen Unterrichts herumdrücken und sich mit heterogenen Lösungen zufriedengeben. So bleibt der Zugang zur Musikausbildung nach wie vor stark vom sozialen Hintergrund geprägt.

Der Bund droht im Bildungsartikel damit, dass er «die nötigen Vorschriften» selbst erlassen kann, wenn die Kantone keine Einigung in den Zielen erreichen. Das müsste er meiner Meinung nach nun zwingend tun.
 

Art. 67a Musikalische Bildung

1 Bund und Kantone fördern die musikalische Bildung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen.

2 Sie setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für einen hochwertigen Musik­unterricht an Schulen ein. Erreichen die Kantone auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung der Ziele des Musikunterrichts an Schulen, so erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften.

3 Der Bund legt unter Mitwirkung der Kantone Grundsätze fest für den Zugang der Jugend zum Musizieren und die Förderung musikalisch Begabter.

Quelle: fedlex.admin.ch

Zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverfassungsartikels 67a ist festgestellt worden, dass eben mit «Jugend und Musik» der ausserschulische Bereich und auch die Talentförderung sehr zentral angegangen wurden. Gleichzeitig sei aber bezüglich der schulischen Entwicklung noch wenig vorhanden. Wo seht ihr Ansätze, um hier nach zehn Jahren noch ein Accelerando zu bewirken?

Roman Brotbeck: Es gibt einfach eine grosse Dissonanz, wenn ich höre, dass offenbar in der Volksschule Primarlehrerinnen und Primarlehrer Musik unterrichten, die nicht dafür ausgebildet sind. Das crasht mit dem Artikel: «Die Kantone setzen sich für einen hochwertigen Musikunterricht ein». Das geht gar nicht zusammen. Ich kann nicht von einer mathematisch inkompetenten Person verlangen, dass sie hochwertigen Mathematikunterricht gibt, oder von jemandem, Französischunterricht zu geben, ohne selber französisch zu sprechen. Gerade der Fremdsprachenunterricht ist ein sehr gutes Beispiel, weil er der Musik sehr nahe ist. Wenn ein Kind von Anfang an eine Sprache mit einer guten muttersprachlichen Aussprache hört, kann es diese sehr viel besser und leichter aufnehmen, als wenn es in deutscher Sprache in Französisch oder Englisch unterrichtet wird. In der Musik ist es genau gleich! Wir brauchen dort hochprofessionelle Leute. Zum Glück haben wir das beim Instrumentalunterricht bei den Musikhochschulen trotz massiver Widerstände geschafft. Als das moderne Hochschulsystem Anfang der Nullerjahre eingeführt wurde, wollte man die Pädagogische Ausbildung der Musikhochschulen auf drei Jahre kürzen und auf die Bachelorstufe beschränken, mit der Begründung, dass das Unterrichten von Kindern ja auch mit wenig Fachkompetenz möglich sei. Damals hatte die KMHS (Konferenz der Musikhochschulen Schweiz) argumentiert: «Das ist die schwierigste Stufe. Also müssen wir ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker im Instrumentalunterricht einsetzen.» Dies ist nun zum Vorteil der Musikschulen gegenüber den Volksschulen geworden, dass nämlich dort nur musikalisch kompetente Lehrpersonen unterrichten. In einem demokratischen Land wie der Schweiz, das zum Ziel haben sollte, die gesamte Bevölkerung zu bilden, fände ich es aber wichtig, dass auch an der Volksschule fachlich kompetente Lehrpersonen Musik unterrichten. Für mich wäre der Moment gekommen, dass der Bund die nötigen Vorschriften erlässt, um diesen Missstand zu beheben.

Jürg Zurmühle: Ich sehe das ähnlich. Wir haben ja auch schon versucht, in parlamentarischen Kommissionen darauf hinzuweisen. Ich sehe es als eines der grossen Probleme, dass der Bund nicht sagt: «Da steht ein Verfassungsartikel. Wir wollen von den Kantonen wissen, wie ihr den umgesetzt habt.» Aber auch die Verbände müssen sich einschalten. Wir können durch den Verband Fachdidaktik Musik Schweiz und den Schweizer Musikrat Einfluss auf die Diskussion auf der politischen Ebene nehmen. Das ist sehr wichtig, um diesen Artikel jetzt auch in diesem zweiten Punkt umsetzen zu können. Es gibt aber auch mehr pragmatische Möglichkeiten: Im Kanton Basel-Stadt wird ein grosser Teil des Musikunterrichts von Fachpersonen unterrichtet und die machen das sehr gut. Nun besteht aus meiner Perspektive aber die Gefahr, dass – wenn nur noch Fachpersonen Musik unterrichten – Musik, so wie ich das verstehe, als Alltagsgestaltung einfach wegfällt, weil und das haben wir auch schon erfahren, die Primarlehrpersonen sagen: Dieser Bereich wird ja von der Musik- und Bewegungslehrperson abgedeckt. Das heisst, ich möchte eigentlich, dass man im Fach Musik sowohl Fachlehrpersonen als auch gut ausgebildete Lehrpersonen einsetzen kann und dass diese Kooperation, wenn sie gelingt, wunderbare Resultate bringen kann. Damit sind wir wieder beim gleichen Thema: dass es nicht Konkurrenz, sondern Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren gibt.

 

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Jürg Zurmühle
… hat die Arbeit des Verbands Fachdidaktik Musik Schweiz vfdm.ch als Präsident massgeblich mitgestaltet.

Es wäre natürlich schön, wenn die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK diese Vision teilen würde, damit in allen Kantonen Fachlehrpersonen auf der Volksschulstufe Musik unterrichten dürfen. Die Direktorinnen und Direktoren Pädagogischer Hochschulen PH sehen das wohl ein wenig anders. Hast du als Präsident Fachdidaktik Musik Schweiz auch konträre Positionen zu den Direktionen der PH und wenn ja, wie gehst du damit um?

Jürg Zurmühle: Das ist eine gute Frage. Diese konträren Haltungen gibt es selbstverständlich. Ich habe vorher erwähnt, dass wir in der Musik und grundsätzlich in der Ausbildung viel zu wenig Fachlichkeit haben. Es ist nicht nur die Direktion, die hier dagegenhält, sondern die ganze Community an der PH, weil natürlich alle Bereiche für ihre Anliegen an ein Studium zu wenig Zeit zur Verfügung haben. Darum wäre auf der bildungspolitischen Ebene der Masterstudiengang eine Lösung, welcher Vertiefungen ermöglichen könnte. Oder wir nehmen uns mehr Ausbildungszeit, um die Kompetenzen der Studierenden in den vielen Bereichen vertiefen zu können. Ein anderes Beispiel: Bei uns an der PH FHNW wird der Instrumentalunterricht der Fachwissenschaft zugeordnet. Wir haben uns da schon von Anfang an dagegen gewehrt, weil dieser Begriff nicht dem entspricht, was wir tun. Auch unsere musikalischen Seminare sind zwar wissenschaftlich fundiert, aber nicht Wissenschaft. Das ist etwas ganz anderes. Das Bekämpfen des Begriffes Fachwissenschaft in der Musik habe ich 14 Jahre lang gemacht. Ich bin immer gescheitert, dieser Begriff lässt sich nicht eliminieren.
 

Wenn du für die musikalische Ausbildung an deiner Institution mehr Zeit erhieltest, wie würdest du diese konkret in der fachpraktischen Ausbildung nutzen?

Jürg Zurmühle: Ich möchte gerne unterscheiden zwischen der fachpraktischen und der fachdidaktischen Ausbildung, die ich für ebenso wichtig halte. In der fachpraktischen Ausbildung haben wir Studierende, die mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen an unsere Hochschule kommen. Von Leuten, die Panik haben, Musik zu machen, bis zu professionellen Musikerinnen und Musikern, die in den Lehrberuf auf der Volksschule einsteigen wollen. Im hoch individualisierten Instrumentalunterricht können wir diesen heterogenen Niveaus gerecht werden. Hier versuchen wir unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten: Einerseits brauche ich das Instrument, um mein eigenes musikalisches Verständnis des Hörens, des Handelns, des Interpretierens und auch des Improvisierens – das ist uns ganz, ganz wichtig – zu vertiefen, aber auch um das individuelle Verständnis und Können weiterzuentwickeln. Zum andern ist das gemeinsame Musikmachen ein grundlegendes zu vermittelndes Erlebnis. Ich nehme da ein Beispiel: Die Studierenden müssen sowohl einen Kanon singen als auch mit Alltagsgegenständen improvisieren können. Das sind unterschiedliche Zugänge zur Musik und beide sind mir persönlich und unterdessen uns allen im Team ein hohes Anliegen. Aber das müssen die Studierenden erfahren können. Von der ersten Stunde an wird Musik gemacht und alles, was man lesen oder sonst noch machen kann, das machen sie ausserhalb. Zusammen Musik zu machen ist grundlegend, wichtig und zentral in der Fachwissenschaft. Und diese Erfahrungen in Musik brauchen Zeit, von der ich gerne mehr hätte.
 

Das heisst, den Rest, das Diskutieren und Reflektieren, die Fachdidaktik, machen sie ausserhalb des Unterrichts?

Jürg Zurmühle: Nein, das war jetzt die Fachwissenschaft. Die Fachdidaktik wiederum verstehe ich als die bewusste Gestaltung der Ermöglichung von Lernprozessen bei Kindern, und zwar ausgehend von dem, was die Kinder können, aber auch ausgehend von dem, was ich als Lehrperson kann. Der eine Ansatz ist, dass wir mit den Studierenden unterschiedliche Konzepte praktisch kennenlernen, das heisst beispielsweise den aufbauenden Musikunterricht, der mit Patterns arbeitet oder mit dem Prinzip der Solmisation. Oder ein anderes Konzept, wie es beispielsweise Beck-Neckermann für Kindergarten/Unterstufe vorschlägt, das mehr vom Kind her gedacht ist: Was braucht ein Kind, was kann das Kind schon, welche Rolle hat das improvisatorische Element, das Entdecken und Ausprobieren? Und dazu die Reflexion und den Dialog: «Sag mal, was ist jetzt da geschehen, was hast du gehört oder gemacht?» Trotz Offenheit braucht es Ordnungsstrukturen zur Orientierung.

Mir ist ein hohes Anliegen, beide Beispiele als gute Ansätze des Musikunterrichts zu verstehen. Ich will sie nicht gegeneinander ausspielen, sondern eben als Sowohl-als-auch präsentieren. Ich muss jedoch die Vorgehensweisen unterscheiden und auswählen können, ob ich einen Kanon anleite oder ob ich die Kinder mit Alltagsgegenständen improvisieren lasse. In der Fachdidaktik muss es uns gelingen, die Studierenden an den Punkt zu bringen, an dem sie merken, dass es unterschiedliche Arten gibt, Musik zu unterrichten und dass sie zwischen unterschiedlichen Konzepten und Vorgehensweisen differenzieren können. Der Dialog über die Erfahrungen und die Konzepte ist für die Studierenden natürlich enorm wichtig und den machen wir, wann immer möglich, live.
 

Musikpädagogische Forschung

Welche Bedeutung und Dringlichkeit messt ihr, auch in diesem Kontext, der musikpädagogischen Forschung im Wirkungsfeld der Pädagogischen Hochschulen und der Musikhochschulen zu?

Jürg Zurmühle: Für mich hat die Forschung im musikpädagogischen Bereich enorme Bedeutung, um Glaubenssätze der Musiklehrpersonen auch mal überprüfen zu können. Zum andern weiss man immer noch relativ wenig, wie die vielschichtigen und vielfältigen musikalischen Lernprozesse bei den Kindern förderlich gestaltet werden können und wie Kinder Musik in allen ihren Ausprägungen lernen. Der forschende Blick sensibilisiert, fokussiert und verallgemeinert: Es geht nicht nur um individuelle Erfahrungen, sondern um das Finden von Prinzipien. In meiner eigenen bescheidenen Forschungstätigkeit ging ich solchen Fragen nach: Was passiert wirklich und genau in dem Moment, wo Kinder miteinander Musik machen? Wie beschreiben Kinder ihre Erfahrungen bei einem Konzert, bei dem sie mitwirken? Der Trubel des Unterrichts erlaubt es oft nicht, hier genau hinzuschauen. Deshalb bringen solche Forschungen, die genau und wiederholt hinschauen und zu verstehen versuchen, Erstaunliches zum Vorschein, was vorher nicht bekannt und bewusst ist.

Für die Hochschule ist das Rezipieren von Forschungsergebnissen wichtig, beispielsweise durch das Lesen und gemeinsame Besprechen von Primärtexten im Team und mit den Studierenden. Zum anderen ist es auch die Aufgabe der Hochschule, eigenen Forschungsfragen nachzugehen, um Erkenntnisse zum Musikunterricht in der Schule zu erhalten und zu publizieren.
 

Roman, was ist deines Erachtens die Aufgabe der Forschung in der Musik?

Roman Brotbeck: In keinem Bereich haben sich die Musik- und Kunsthochschulen so verändert wie in der Forschung. Trotz anfänglicher Widerstände vieler Lehrkräfte hat da eine enorme Entwicklung stattgefunden. Auch in der musikpädagogischen Forschung hat sich vieles getan, aber ihre Themen sind mir manchmal in zu marginalen Feldern angesiedelt. Aus der Distanz scheint mir, dass die Verbindung von Lehre und Forschung verstärkt werden müsste. Zuweilen besteht die Gefahr, dass die Forschung ein Satellit ist, welcher nicht mehr in die Lehre der Hochschulen hineinwirkt. In der Musikpädagogik wäre Forschung wünschenswert, welche aus der Praxis heraus entwickelt wird. Eine spezifisch fachdidaktische Forschung wäre dafür ein ideales Feld. Ich hätte dafür auch eine Idee: ein interinstitutionelles Forschungsprojekt zur Entwicklung eines interaktiven schweizerischen Musik-Lehrmittels für die Volksschule unter Einbezug aller Sprachen und Kulturen. Das Lehrmittel könnte Best Practice-Elemente enthalten, die sich dann auch auf andere Bereiche auswirken könnten.
 

Gerne nehmen wir den Aspekt Lehrmittel später nochmals auf. Die Forderung nach forschenden Dozierenden kommt stark aus den Institutionen. Was sind in diesem Zusammenhang sinnvolle Qualifizierungen?

Jürg Zurmühle: Ich wünsche mir Personen mit viel Praxis, die also viel praktische Erfahrungen in Musik gemacht und Musik unterrichtet haben. Das sind beispielsweise Personen, die eben von Kind an schon Musikerinnen und Musiker sind und dann eine Ausbildung als Lehrperson gemacht haben, unterrichtet haben, und viele Kontakte in verschiedenen Settings mitbringen, die aber auch eine fachliche und fachdidaktische Ausbildung haben. In der Forschung müsste neben musikpädagogischer auch Forschungsqualifikation vorhanden sein. Die bisherigen, geschätzten Kolleginnen und Kollegen mit Promotion in der Musikpädagogik sind keine Musiklehrpersonen, sondern entweder Psychologinnen oder Soziologen. Sie haben sehr wichtige und grundlegende Arbeit geleistet, das steht ausser Frage, aber es sind eben keine Musiklehrpersonen. Dies beginnt sich nun langsam in dem Sinne zu verändern, dass Forscherinnen und Forscher neben der Perspektive der Forschungsmethodik, der Forschungsdistanz gleichzeitig auch die Perspektive der Praktikerinnen und Praktiker aus dem Feld einbringen können.
 

Eigene Erfahrungen und persönliche Wirkung

Kommen wir von der Forschung nochmals zu euch persönlich zurück: Wenn ihr zurückschaut, was konntet ihr in euren Rollen und Funktionen bewirken?

Roman Brotbeck: Ich hatte das Glück, dass ich seit Beginn der Ausbildung gewusst habe – ich habe Musikwissenschaft studiert –, dass ich nicht einfach im stillen Kämmerchen irgendwelche Lexikonartikel und Bücher schreiben möchte, die dann im kleinen Kreis der Musikwissenschaft rezipiert werden und vielleicht vier gute oder auch schlechte Kritiken bekommen, sondern ich wollte immer einen breiteren Einfluss haben. Deshalb bin ich über die Medien, das Radio und das Präsidium des Tonkünstlervereins schliesslich in die ganzen Planungen zur Neugründung der Musik- und Kunsthochschulen eingestiegen. Das war eine enorme Chance für mich. In Bern konnte man in ein paar Jahren Dinge verändern, wofür man in normalen Zeiten wahrscheinlich zwei Jahrzehnte bräuchte. Als diese Entwicklungen konsolidiert waren, habe ich mich dann zurückgezogen. Meine Fähigkeit liegt mehr darin, Dinge in Bewegung zu setzen, als sie zu verwalten. Und ja, es war möglich, die Forschung zu initiieren, es war möglich, die musikpädagogische Ausbildung auf Hochschulstufe völlig zu erneuern. Dies war eine ideale Zeit in der Schweizer Musikhochschullandschaft, weil die Direktoren – ob in der Westschweiz, im Tessin oder in der Deutschschweiz – an einem Strick zogen. Wir standen nicht in Konkurrenz zueinander, im Gegenteil: Man telefonierte sich ständig und sprach sich ab, weil das Damoklesschwert über uns schwebte, den Musikhochschulen analog zu den technischen Fachhochschulen nur wenige Masterausbildungen zuzugestehen. Da hätten die Schweizer Musikhochschulen international nicht mehr mithalten können. Dieses gemeinsame Ringen hat sehr viele Veränderungen hervorgerufen. Ich wünsche mir für die Fachdidaktik Musik der Schweiz, sie würde eine ähnliche Solidarität entwickeln. Was mit den Musikhochschulen damals gelang, ist für mich bezüglich Bündelung von Kräften exemplarisch. Ein Resultat davon sind ausgezeichnete Lehrkräfte, welche heute in den Musikschulen wirken – auch dank der Musikhochschulen.
 

Jürg, wie sieht das bei dir aus? Was konntest du persönlich in deinen Rollen und Funktionen bewirken?

Jürg Zurmühle: Meine Biografie ist ja eine ganz andere. Ich bin ursprünglich Flötist. Ich bin am damaligen Konservatorium in Basel als Orchesterflötist ausgebildet worden und wurde schliesslich auf der Strasse angesprochen, ob ich am Lehrerseminar in Liestal unterrichten könnte. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Lehrerbildung. Schliesslich habe ich eine fast 40-jährige Karriere in der Lehrerbildung gemacht, mit Hochs und Tiefs. Wenn ich jetzt auf meine Wirkungszeit der letzten 14 Jahre als Leiter der Professur zurückschaue, ist es erfreulich, was uns gelungen ist. Ich sage ganz bewusst «uns», weil es eine Teamarbeit war, alleine hätte ich das nicht erreichen können. Was wir erreicht haben, ist einerseits, mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen – die nicht optimal sind – eine möglichst gute Ausbildung auf die Beine zu stellen. Das andere ist, dass wir die extrem unterschiedlichen Ansichten, was Musikunterricht sein soll und sein kann, die wir am Anfang in der Professur angetroffen haben – wir waren ja aus vielen Institutionen fusioniert, mit vielen Menschen, die ganz unterschiedliche Ansichten von Musikunterricht hatten –, in unserer Professur integrieren und abbilden konnten. Wir haben und leben ein Sowohl-als-auch: Wir versuchen sowohl eine klare normative Setzung zu haben: Was man am Schluss können muss, also quasi eine Kompetenzorientierung. Auf der anderen Seite stellen wir uns die Fragen: Was sind Punkte, wo sehr viel Kreativität und Spiel miteinander möglich sind? Was sind Dinge, welche man können und als individuelle, fachliche Qualität entwickeln «darf»? Eine Lehrperson kann einen Kanon anleiten, eine andere hat entdeckt, dass sie mit den Kindern zusammen im Wald Hörspaziergänge machen kann. Und eine Dritte ist vielleicht Popsängerin und nutzt ihr eigenes Können, um mit den Kindern Lieder zu gestalten, unter Einbezug eines Instrumentariums von Klangspielen über Boomwhackers bis hin zur Elektronik. Dass wir eine Breite von Musikunterricht anbieten können, der aber nicht beliebig ist, darauf bin ich stolz.
 

Verfolgt ihr die Entwicklung eurer Alumni, werden die beispielsweise zu Praxislehrpersonen?

Jürg Zurmühle: Verfolgen ist etwas zu viel gesagt, aber wir sind mit einzelnen Personen in Kontakt. Beispielsweise haben wir für unsere Homepage www.musikinderschule.ch Lehrpersonen gefragt, ob sie Elemente davon ausprobieren und uns dazu Rückmeldung geben könnten. Auch durch unsere Forschungsprojekte pflegen wir Beziehungen mit ehemaligen Studierenden im Feld. Andere haben einen CAS an der PH FHNW absolviert. Diese können wir als Expertinnen und Experten einbeziehen. Die Kontaktpflege ist weniger institutionalisiert, sondern ist eher persönlich. Diese Kontakte sind für uns enorm wertvoll.
 

Um nochmals auf eure persönliche musikalische Biografie zurückzukommen: Wo hat diese euer Handeln beeinflusst? Also inwiefern haben eure Erfahrungen euer Wirken beeinflusst?

Jürg Zurmühle: Ich habe ja auch Shakuhachi, eine japanische Bambus-Flöte, gelernt und mich in afrikanischem Trommeln weitergebildet, ganz unterschiedliche Situationen. Als ich meine Stelle in der Professur übernommen hatte, machte ich mir Gedanken darüber, wie Musikunterricht überhaupt funktioniert. Meine persönlichen Erfahrungen waren sehr unterschiedlich: Ich hatte einerseits sehr streng in vorgegebenen Settings, aber auch in offenen Strukturen improvisieren gelernt. So hatte ich mich auf die Suche nach musikpädagogischen Konzepten gemacht und gefragt: «Kann mir jemand sagen, wie es geht? Was ist jetzt das Richtige?» Gottseidank sagt einem dies niemand. Es gibt viele unterschiedliche Wege des Musiklehrens, und für mich folgte eine wertvolle intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten von Musikunterricht. Schon während dem Flötenunterricht hatte mich das fasziniert. So bin ich zum Schluss gekommen: Es gibt nicht ein Konzept, wie Musikunterricht gehen soll und muss, sondern es gibt viele. Das war biografisch für mich ein erster entscheidender Moment. Heute bin ich an einem Punkt, wo ich diese Konzepte in einem grösseren Rahmen darstellen und verstehen kann.
 

Hochwertiger Musikunterricht

Roman Brotbeck hat uns aufgefordert, vom Verband aus zusammen mit pädagogischen Hochschulen und Musikhochschulen ein schweizerisches Lehrmittel zu gestalten. Ist das aus deiner Sicht sinnvoll, Jürg?

Jürg Zurmühle: Ich verstehe das Anliegen, aber ich bin gegenüber Lehrmitteln skeptisch. Lehrmittel beruhen in den meisten Fällen auf irgendeiner, zum Teil nicht einmal explizit formulierten Voraussetzung, was unter Musikunterricht zu verstehen ist. Das heisst, es gibt eigentlich im Lehrmittel eine festgelegte Ausrichtung nach einem Konzept, einer Vorstellung von Musik oder einer Methode. Deshalb würde ich mich bei einem offiziellen schweizerischen Lehrmittel eingeengt fühlen. Etwas anderes ist, sich zu fragen, was heisst Lehrmittel heute? Diese könnten offener angelegt und immer in Entwicklung gedacht werden. Zum Beispiel als eine Plattform, bei der ganz unterschiedliche Formen des Unterrichtens angeboten, aber auch diskutiert würden, ein dynamisches Lehrmittel sozusagen. Aber ein Lehrmittel im Sinne einer normativen Setzung, da habe ich meine Bedenken. Das ist manchmal ein Wunsch von Studierenden, aber ich persönlich finde das nicht dem Stand der Erkenntnisse und der Heterogenität von Kindern, Musiken, Methoden, Zielen und Wegen adäquat.

So kommen wir wieder in den bildungspolitischen Bereich: Eine Definition des hochwertigen Unterrichts steht nach wie vor aus, um dem Bund auch die Mittel geben zu können, überhaupt zu überprüfen, was dieser denn sein soll. Fändest du analog zum Lehrmittel auch hier eine Setzung unpassend? Braucht es nicht auch hier eine Orientierung?

Jürg Zurmühle: Doch, aber das ist etwas anderes als Definitionen. Es geht um einen gemeinsamen Kurs. Der Verband beziehungsweise der Vorstand hat sich beispielsweise mit dem Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» (www.matu2023.c 5,Inseln“

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Titelbild: neidhart-grafik.ch

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SMZ

29.06.2022

Mit Geschichten über Inselmusik, komponierte Inseln, eine Insel für konzentriertes Hören und das Hang, das wie eine ufoartige Insel aussieht, verabschiedet sich die Redaktion auf die Sommerinsel.

Inseln

Mit Geschichten über Inselmusik, komponierte Inseln, eine Insel für konzentriertes Hören und das Hang, das wie eine ufoartige Insel aussieht, verabschiedet sich die Redaktion auf die Sommerinsel.

Focus

Inseln im Klangfluss
Eine Betrachtung quer durch die Jahrhunderte

Das musikalische Treibhaus
Inseln als Biotop fur inspiriertes Schaffen

Riddim, dub et rubadub
Interview avec Marc-Olivier Savoy au sujet du reggae

Une sculpture sonore hautement non linéaire
Le hang

Ruhe im Schallwellenmeer
Das SE-Musiclab in Wabern 
 

… und ausserdem

SERVICE


Hanns In der Gands Liedersammlung

Nachrichten, Linkempfehlungen — brèves, liens recommandés
 

FINALE


Rätsel
— Chris Walton sucht


Reihe 9

Seit Januar 2017 setzt sich Michael Kube für uns immer am 9. des Monats in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb.

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