Neue Musik wachgerüttelt
In Lugano wurde am 5. März eines der neuesten und bedeutendsten Kapitel in der (kurzen) Geschichte der zeitgenössischen Musik in der italienischen Schweiz fortgeschrieben.

Eine vollständig mit Kartonschachteln zugestellte Bühne, manche braun, andere weiss. Am Anfang und Ende des Saales zwei grosse, durchsichtige Zylinder aus Plastikverpackungen, in denen sich Personen zu verstecken scheinen.
Damit könnte respektive müsste man vielleicht beginnen, um über die dritte Veranstaltung von Neon&Caffeine zu berichten, der innovativen Serie zeitgenössischer Konzerte, die vom Conservatorio della Svizzera italiana gefördert wird.
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- Foto: Iris Ponti
Nur vom unmittelbaren Eindruck dieses Abends ausgehend, wären die Beweggründe für eine derartige Veranstaltung und ähnliche Projekte rund um das Angebot von neuer, anspruchsvoller Musik jedoch nur schwer verständlich. Gewiss, doch Neon&Caffeine ist nicht nur eine thematische Ansammlung von vier jährlichen Konzerten, sondern auch ein Zielpunkt auf dem jahrzehntelangen, gewundenen Weg, den die zeitgenössische Musik in der südalpinen Schweiz zurückgelegt hat. Alles hatte Mitte des letzten Jahrhunderts mit isolierten, importierten Programmen angefangen, die an Persönlichkeiten wie Wladimir Vogel oder Hermann Scherchen gebunden waren. Weiter ging es im Jahr 1977 zur Generation der Konzerte OGGImusica, die sowohl spontan als auch aus einem eigenen, wohlgesinnten ideologischen Nährboden entstanden und die schliesslich in den Rückgang der neunziger Jahre mündeten, als die Uraufführungen nach und nach von den offiziellen sinfonischen Spielplänen verschwanden und das Publikum bei den althergebrachten kammermusikalischen Veranstaltungen immer weniger wurde. Eine Wiederbelebung um das Jahr 2000 schien gute Chancen zu haben durch die Synergie Rete Due – Konservatorium, die 900presente gründeten (immer noch mehr dem 20. Jahrhundert als der Gegenwart verhaftet) und durch die Schaffung von La Via Lattea, das jedoch der Kategorie von Konzerten im üblichen Rahmen nur schwer zuzuordnen war. Aber ausgerechnet Mitte der Nullerjahre stand man vor zwei möglicherweise endgültigen Tatsachen: die befürchtete Auflösung der Vereinigung OGGImusica und die bedauerliche Ankündigung des Endes der Swiss Chamber Concerts durch den Direktor des Teatro Sociale di Bellinzona. Trotz allen möglichen Anstrengungen schien kein an neuer Musik interessiertes Publikum mehr vorhanden zu sein.
Was bedeutete das? Was konnte man dagegen tun? War es wirklich sinnvoll, sich weiter für die Gegenwartskunst einzusetzen oder musste man vielleicht einfach akzeptieren, dass die italienische Kultur unanfechtbar resistent war gegenüber dieser Art von Musik?
Die entschlossenste und positivste Antwort auf diese berechtigten Zweifel lieferte ein junger Tessiner Komponist, unmittelbar heimgekehrt nach unzähligen Aufenthalten in ganz Europa und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Er war motiviert, im ausgetrockneten Land seiner eigenen Herkunft den Samen des absterbenden Baumes wieder einzupflanzen, um ihn in einer neuen, sehr liebevollen und weniger dogmatischen Art zu kultivieren. Nadir Vassena verdanken wir tatsächlich die Wiederbelebung von OGGImusica, die Schöpfung einer tragfähigen Kompositionsklasse am CSL, den ständigen Dialog mit den wichtigsten Autoren und den glaubhaftesten Institutionen von nationalem und internationalem Massstab sowie die zentralisierte Koordination aller Veranstaltungen, die jetzt unter der Etikette Lugano Modern stattfinden. Natürlich ist es nicht so, dass Vassena das alles ganz allein bewerkstelligt hätte. Aber es ist unbestritten, dass ohne eine ähnliche Persönlichkeit – aus tiefster Seele italienisch-schweizerisch und gleichzeitig eine wahre und wirkliche Brücke Richtung Norden und Süden – hier eine ganz andere Geschichte zu erzählen wäre (ein dodekafonisches de profundis?).
Vassenas genialste Erfindung, unvorhersehbarer, atypischer, synkritischer und somit zeitkritischer, war diejenige, Konzerte als wahrhaftige Spektakel zum Leben zu erwecken und die neue Musik in einem ganz ungewohnten Rahmen zu präsentieren. Das Problem, das es zu lösen galt, war die Rückeroberung eines neugierigen und anspruchsvollen Publikums, nachdem dieses im Lauf der Jahre von der in den üblichen frontalen Konzerten dargebotenen zeitgenössischen Musik enttäuscht (vielleicht sogar verraten?) worden war. Mit dem Festival Lanterna Rossa wurde 2010 ein Modus gefunden, der die neue Musik nicht einfach leuchtend hell ins Zentrum stellte (quasi als ein a priori zu verehrendes Totem ästhetischer Erfahrung), sondern ihr ein perfekt abgestimmtes Umfeld gab, das einen während der Aufführung umfasste, hineinzog und nicht mehr losliess. Dies wurde durch Lichteffekte, Video, Theater, Installationen oder Tanz erzeugt, immer in einer thematisch schlüssigen Konzeption (auch dank dem blühenden Erfindungsreichtum des Regisseurs Fabrizio Rosso). Damit gelang es tatsächlich, von neuem ein zahlreiches Publikum zu erreichen und in Kontakt mit den kühnsten Werken des aktuellen Kunstschaffens zu bringen.
Dieser Vorgänger ist schliesslich im letzten Jahr abgelöst worden durch Neon&Caffeine, auch das ein Festival, wo sich die neue Musik in einer quasi unterschwelligen Art behauptet. Anstelle der charakteristischen Themen steht jetzt jeweils eine Persönlichkeit im Zentrum jeder Folge. Vorzugsweise kein Künstler, nie ein Musiker, aber auf jeden Fall eine Person, die in ihrem täglichen Handeln einen Bezug zu schöpferischen Themen lebt. So war der vergangene 5. März der Abend von Giosè Casalotto, Firmeninhaber von Finser Packaging. Er behandelte im Videointerview, abwechselnd mit den Musikstücken, sowohl für die Unternehmung als auch für die Tonkunst grundsätzliche Themen wie die Erfindung, das Risiko, die Auseinandersetzung, die Finanzen oder die Leidenschaft. So haben sich die Werke von Steve Reich, Mathias Steinauer und Yves Daoust wie auch der Gastprotagonist des Anlasses in das aus Paketen hergestellte Bühnenbild integriert, womit sich auch das hier am Anfang beschriebene, merkwürdige Dekor erklärt. Eine andere und sicher nicht alltägliche Art und Weise, um einen funktionellen Zugang zu den fortschrittlichsten Werken der musikalischen Kunst anzubieten und für den Zuschauer eine reiche, echte Erfahrung zu schaffen, die man bereits abhandengekommen glaubte. Hoffen wir also, dass es nicht gelingen wird, sie von neuem zu verlieren.