Magische und individuelle Zeitschichtungen

Ein Symposium und ein Konzert der Zürcher Hochschule der Künste zeigten Gérard Grisey als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Pierre-André Vallade dirigiert das ZHdK-Orchester. Foto: Priska Ketterer,Foto: Priska Ketterer,Foto: Priska Ketterer

Wie lassen sich komplexestes kompositorisches Denken und sinnliche Wahrnehmungsebenen vereinen – opera d’arte oder grossartig vielschichtige Konstruktion? Am kleinen, hochkarätig besetzten internationalen Symposium Perspektiven der Musik Gérard Griseys in der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), kuratiert und moderiert von Jörn Peter Hiekel, stellten Experten am 22. April ihre neusten Forschungsergebnisse vor, abgerundet durch ein Gespräch mit dem Komponisten Gérard Zinsstag.

Gérard Grisey war zusammen mit Tristan Murail, Hugues Dufourt, Michaël Levinas und Roger Tessier Mitbegründer der Gruppe lʼItinéraire, die sich vom vorherrschenden Serialismus abwandte und den sogenannten Spektralismus als kompositorisches Denken propagierte, ausgehend vom Klang und seinen impliziten Obertönen.
 

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Jörn Peter Hiekel

In einer dichten Einführung, die diesen Zusammenhängen nachging, zeigte Jörn Peter Hiekel Griseys Unverwechselbarkeit und Originalität auf und führte damit vor Augen, dass Grisey keineswegs als blosse Episode der Musikgeschichte betrachtet werden kann. Lukas Haselböck (Wien), der sich als Grisey-Experte nicht zuletzt durch seine massgebliche Monografie aus dem Jahr 2009 einen Namen gemacht hat, führte anhand von einzelnen Werken aus, dass Grisey nicht allein auf das spektrale Komponieren reduziert werden kann, sondern auch im Hinblick auf Klang- und Sinnhorizonte faszinierend ist. Dabei erläuterte er den von Grisey favorisierten Begriff «musique liminale», mit dem erfasst werden kann, dass bei Grisey eine Art der Wahrnehmung stets in eine andere übergeht.

Ingrid Pustijanac (Cremona) zeigte auf, wie Grisey im Lauf der Arbeit an Les espaces acoustiques ein komplexes System zur Kontrolle der zeitlichen und harmonischen Dimensionen entwickelte, was sie mit zahlreichen Hörbeispielen belegte. Der Vortrag endete mit dem Fazit, dass die klangliche Erfahrung dennoch dem strukturellen Denken gegenüber immer im Vordergrund stehe.

Darauf dokumentierte Lars Heusser (Basel/Zürich) ein Seminarprojekt an der ZHdK, das er unter das Motto «il est donc temps de rendre la complexité efficace» stellte und in dem es darum geht, dass bei Grisey die konstante Beziehung zwischen Mikro- und Makrokosmos eine hohe Kongruenz zwischen Konzeption und Wahrnehmung spiegelt. Dies zeigte Heusser anhand der Werke, Dʼeau et de pierre (1972), Vagues, chemins, le souffle (1970–72), und Charmes (1996): Verschiedene konzeptionelle Parameter wurden grafisch dargestellt, wodurch sich monochrome parallelsymmetrische Raster ergaben.

In einem von Felix Baumann feinfühlig moderierten Gespräch mit Gérard Zinsstag, Komponistenfreund und Wegbegleiter Griseys im Itinéraire, wurde die «Trinität» von Griseys Vorbildern – Messiaen, Ligeti und Stockhausen – diskutiert, fanden aber auch Giacinto Scelsi und Salvatore Sciarrino als wichtige Impulsgeber Erwähnung. Zinsstag schilderte auch sehr persönlich, wie ihre Freundschaft nach einer ersten Begegnung in Darmstadt in den späten Siebzigerjahren in Berlin ihre Vertiefung fand, und Alltagserlebnisse während gemeinsamen Arbeitsaufenthalten in einem alten Haus in Graubünden. So erstand ein sehr detailliertes Bild des Menschen Gérard Grisey.

Anhand der emphatisch vorgetragenen Betrachtungen und Diskussionen gelang es dem Symposium, Griseys Bedeutung als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts sichtbar zu machen und zu zeigen, dass seine kompositorischen Strategien über das Verankern neuer Parameter weit hinausreichen und zu einer gelungenen Verschmelzung der konzeptionellen Seite mit tieferen Sinnschichten sowie mit einem ureigenen Zeitempfinden reichen.
 

Wuchernde Klänge

Im anschliessenden Konzert im gut besetzten grossen Saal der Tonhalle erklang Griseys beindruckendes Werk Les Espaces acoustiques – und dies erstmals integral interpretiert von einem reinen Hochschulorchester, dirigiert vom Grisey-Kenner Pierre-André Valade. Das sechssätzige, 1974 bis 1985 komponierte Werk, das sich sukzessive von sieben Musikern zum grossen Orchester ausweitet, erhielt durch Grisey 1976 einen Prolog für Bratschensolo. Meisterhaft wurde es von der jungen Esther Fritzsche dargeboten. In den folgenden Sätzen Périodes (1974), Partiels (1975) und Modulations (1976/77) hörte man das intendierte gemeinsame atmende Einschwingen innerhalb eines fluktuierenden Spielraums wie auch ein reines musikalisches Fliesen deutlich. Eindrücklich besonders die Streichergruppe, zumal das gekonnt interpretierte Kontrabasssolo, das in der sich steigernden Dichte und Intensität des auf alle Instrumente verteilten Obertonspektrums immer wieder expressiv zum brummenden tiefen Basston als Keimzelle der wuchernden Klänge zurückkehrt.

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Die Bratschistin Esther Fritzsche spielt den «Prolog»

In den folgenden beiden orchestralen Sätzen Transitoires (1980-81) und Epilogue (1985) wird das Material des Prologs weiter verfremdet und aufgebrochen, in Epilogue von den Solohörnern wiederaufgenommen. In Griseys Worten wird hier «der kollektiven und magischen Zeit des Kosmos eine individuelle, diskursive Zeit der Sprache hinzugefügt».

In einer dramaturgisch angelegten Lichtregie wurde der Aufbau der sechs Sätze spannungsvoll inszeniert. Das verzaubernde Bratschensolo zu Beginn erklang erleuchtet einzig von kleinen Lämpchen an der Notenpultreihe der Solistin. Die Musikerinnen und Musiker der ersten Sätze gruppierten sich im engen Kreis rund um den Dirigenten. Die folgenden kleinbesetzten Sätze wurden im intimen Kreis, ebenso einzig im Schein beleuchteter Notenpulte gespielt. In den orchestralen Sätzen dann erstrahlte der Klangkörper in vollem Lichterglanz, das Echo des Bratschensolos erklang zum Schluss als ferne Reminiszenz diesmal von einer oberen Empore, um mit einem starken Lichtkegel einzig auf den hinten aufgestellten mittleren Perkussionisten in einem dunklen Nachhall zu enden.

Die Studierenden der ZHdK meisterten das höchst komplexe Gesamtwerk mit Bravour. Das begeisterte Publikum dankte mit frenetischem Applaus. Mit dieser Aufführung gelang es der ZHdK, ein epochales Werk der neueren Musikgeschichte auf höchst eindrucksvolle Weise einem breiten Publikum zu vermitteln.

 

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