Zwischen Kunst, Modellbildung und Empirie

Am 29. November wurden an der Graduate School of the Arts in Bern die ersten Doktorate verliehen – Grund für eine knappe Reflexion über Stärken und Schwächen der künstlerischen Forschung.

Promotionsfeier an der GSA. Foto: GSA/Daniel Allenbach

Vor zehn Jahren ist in Bern der Grundstein zu einem ungewöhnlichen Projekt gelegt worden: der Graduate School of the Arts (GSA), einem universitären künstlerischen Dissertationsprogamm für Absolventen der Kunstausbildung an einer Fachhochschule, namentlich der Berner Hochschule der Künste (HKB). Nun haben die Universität Bern und die HKB ‒ offiziell vertreten durch Virginia Richter, Dekanin der Phil.-hist. Fakultät der Uni, und HKB-Direktor Thomas Beck ‒ mit zahlreichen Gästen die ersten Promovierten der GSA feiern können. Das kulinarische Büfett dazu hat Roman Brotbeck metaphernreich zusammengestellt ‒ in den Räumen der HKB im Berner Aussenquartier Bümpliz. Brotbeck ist einer der Initiatoren des Programms; er hat die HKB bis vor rund vier Jahren in verschiedenen Funktionen mitgeleitet. Eine weitere treibende Kraft war Anselm Gerhard, der Leiter des Institutes für Musikwissenschaft der Uni Bern, der an der Feier ebenfalls seine Grüsse überbrachte. Moderiert wurde der Anlass von Thomas Gartmann und Beate Hochholdinger-Reiterer. Sie wechseln sich jeweils jährlich in den Funktionen von Leitung und Ko-Leitung der GSA ab.

Die ersten nun abgeschlossenen Dissertationen der GSA stammen vom Musiker Immanuel Brockhaus, der seit 2003 auch als Leiter des MAS Pop & Rock der HKB Bern amtet, und der Grafikerin Julia Mia Stirnemann. Brockhaus ist der Frage nachgegangen, «welche Einzelsounds die Geschichte der populären Musik prägten und bis heute prägen». Stirnemann hat sich überlegt, wie sich «durch ein parametergebundenes und gezieltes Vorgehen unkonventionelle Weltkarten generieren lassen», namentlich solche, die nicht den Äquator als massgebenden Grosskreis zugrunde legen. Nutzniesser solcher ungewöhnlicher Darstellungen können etwa Schulen, Infografiker oder Weltreisende sein.

Die Techniken, welche die beiden verwendet haben, sind massgeschneidert: Brockhaus hat aus den jeweils ersten 40 Plätzen der Billboard Top 100 Singles von 1960 bis 2013 zwanzig Kultsounds herausgefiltert, detailliert analysiert und beschrieben ‒ mit Hilfe von Methoden aus Musikethnologie, der sogenannten Actor-Network Theory, und Soundanalysen. Das Kernstück der Arbeit Stirnemanns bildet eine eigene Software. Sie ist im Web unter der Adresse worldmapgenerator.com abrufbar.

Mit der GSA haben sich die Universität Bern und die HKB gleich zweifach auf schwieriges Terrain gewagt: Zum einen ist künstlerische Forschung akademisch noch keineswegs allgemein akzeptiert, zum andern wird auch die Frage, ob ein dritter Zyklus, das heisst ein Promotionsstudium mit Doktor-Grad oder PhD an Fachhochschulen sinnvoll ist, nach wie vor sehr emotional diskutiert. Das zeigt auch eine aktuelle Veranstaltung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK): An einem Podiumsgespräch unter dem sinnigen Titel «Gleichartig aber anderswertig?» diskutieren dort am 9. Dezember Vertreterinnen und Vertreter aus Deutsch- und Westschweiz, Österreich und Grossbritannien Themen rund um die künstlerische Forschung und Alternativen wie das österreichische PEEK (Programm zur Entwicklung und Erschliessung der Künste).

Eine Art säkulare Gretchenfrage ist, wie weit künstlerische Forschung Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann. Darüber gibt es noch kaum Konsens, verbindet man Wissenschaft doch gemeinhin mit Modellbildung, Experimenten, Widerlegungsversuchen, Replikationen und damit Forschungslinien entlang allgemeinerer Theorien. Die Arbeiten von Brockhaus und Stirnemann illustrieren aber gerade den individuellen Charakter künstlerischer Fragestellungen, auch wenn vorstellbar ist, dass weitere Arbeiten an deren Ergebnisse andocken könnten.

Möglicherweise besteht die akademische Qualität solcher Arbeiten in der möglichst sorgfältigen Darstellung eines einzelnen Phänomens oder Sachverhaltes. Vorbilder dazu gibt es in der Frühzeit des wissenschaftlichen Denkens, im 18. und 19. Jahrhundert in der voraussetzungslosen Dokumentation gesammelter Daten oder in Einzelfallstudien, die im heutigen Zeitalter der Quantifizierung und Doppelblindstudien zu Unrecht etwas in Verruf geraten sind. Die Wissenschaftstheorie weiss, dass selbst in harten Fächern der Naturwissenschaften und der Medizin die Grenzen zwischen Kunst, Modellbildung und Empirie durchaus fliessend sind.

Zufällige Blicke in die Liste der weiteren Dissertationsprojekte der GSA zeigt die Stärken und Schwächen aktueller künstlerischer Forschung: Sie geht alleine in der Musik vom Blick aufs Werk des Schweizer Komponisten Hermann Meier über die Geschichte des Gitarrenspiels, die Interpretationspraxis bei Joseph Joachim, Kreativprozesse in der Neuen Musik, Musikalische Gestaltungsideale der Liszt-Tradition, die Wiederentdeckung der Bassklarinette oder die musikalische Ausstrahlung des Klosters Einsiedeln im 11. und 12. Jahrhundert. Spontan fragt man sich, ob solche Projekte an einem Musikwissenschaftlichen Institut auch ohne Einrichtung einer GSA ebenfalls Raum hätten. Die zwangsläufig zufällig anmutende und sicherlich gewünschte Vielfalt hilft nicht, das Profil der GSA zu schärfen.

Die einzigartige Stärke der Berner GSA, die lokale Nähe der Partner Universität und Fachhochschule, scheint überdies zugleich eine Schwäche. Sie erlaubt es zwar, die doch recht unterschiedlichen methodischen und kulturellen Traditionen reiner und angewandter Forschung in intensivem Dialog einander näherzubringen, etwas, was im modernen Wissenschaftsbetrieb dringend notwendig scheint. Auf der andern Seite droht das Image von Selbstgenügsamkeit und Provinzialität. Den Anschein des Heimatschutzes verstärkt die Tatsache, dass zur Zeit neben universitär Promotionsberechtigten formell bloss Berner Masterstudierende in ein GSA-Programm aufgenommen werden können. (Für Absolventen nichtbernischer Fachhochschulen muss ein von der Uni Bern verliehener spezialisierter Master in Research on the Arts erworben werden.) Umgekehrt zeigen sich die Verhältnisse etwa im Fall der ZHdK, wo eine Partnerschaft mit der Universität Graz die internationale Vernetzung moderner Forschung unterstreicht, dafür aber die so wichtigen produktiven Reibungsflächen zwischen den Institutionen reiner und angewandter Forschung deutlich kleiner sein dürften.

 

Website der Graduate School of the Art

 

gsa.unibe.ch

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