Dir, der Du mich nie gekannt
Die Kammeroper «Der Traum von Dir» von Xavier Dayer wurde am Zürcher Opernhaus uraufgeführt.

Wer schreibt da? Geräusche eines Bleistifts auf Papier! Aha, Literarizität – oder Briefe! Vielleicht sogar versteckte Mikrogramme. Nicht zum ersten Mal im Musiktheater. Welcher Kollege hatte doch einst versprochen, einmal einen Aufsatz über das Briefeschreiben in der Oper zu schreiben? Denn es handelt sich da um einen heiklen Moment der Zeitdramaturgie: Entweder passiert es unrealistisch rasch oder es hält den Zeitfluss an. In diesem Fall freilich nicht, denn das Schreiben wird zum tragenden Element des Ganzen. Es ist nicht der Dichter, der sich da, wie wir sehen, mit seinem Notizbüchlein auf einer Bank niedergelassen hat. Die wir schreiben hören, es ist eine Frau, abwesend für den Dichter, anwesend für uns in dreifaltiger Gestalt. Sie betet ihn von ferne an und schreibt ihm diesen Brief, den Brief einer Unbekannten, wie die Novelle von Stefan Zweig heisst.
Claus Spahn, der Chefdramaturg der Zürcher Oper, hat diesen Text zu einem kurzen, fast lakonischen Libretto kondensiert; Xavier Dayer, aus Genf stammend und heute Kompositionslehrer an der Hochschule der Künste Bern, hat die Musik komponiert – parallel übrigens zu einer zweiten Kammeroper, die auf ganz andere Weise von Erinnerung und Vergessen handelt: Alzheim wurde am gleichen Wochenende von Konzert Theater Bern uraufgeführt. Es sind die Kammeropern Nr. 6 und 7 in Dayers Œuvre. Er könne sich zwar durchaus vorstellen, einmal etwas für die grosse Bühne zu schreiben, sagt er im MAG des Opernhauses, aber es seien die inneren, die feinstofflichen Welten, die ihn interessieren. «Ich habe Lust, das Innenleben von Figuren in den Blick zu nehmen.»
Das gelingt ihm hier auf eindrückliche Weise: Der angebetete Dichter (Cody Quattlebaum) ist eigentlich nur ein Katalysator und gewinnt selber wenig Charakter. Die Figur der «Unbekannten» jedoch ist so reich und vielfältig, dass sie auf drei Sängerinnen verteilt wird (Soyoung Lee, Haminda Kristoffersen, Kismara Pessatti); sie sind in Stimme und Erscheinung so verschieden, dass sie die drei Lebensalter des Mädchens, der jungen Frau und der zum Tode bereiten Mutter darstellen können. Die Unbekannte lernte den Dichter mit dreizehn kennen, hatte später eine Nacht und daher ein Kind mit ihm, von dem er nie erfuhr, und wird schliesslich nach dem Tod ihres Sohns sterben. Aber noch schreibt sie diesen Brief, in dem sie dem Dichter alles erzählt.
Ins Innere treiben und verharren
Bleistiftgeräusche also am Anfang, zarte Klavier- und Perkussionsklänge. «Dir, der Du mich nie gekannt» beginnt die dritte Frauenstimme. Die anderen mischen sich hinein; das Atmen wird deutlich. Erst mit dem Satz «In mir wuchs der Traum von Dir» hebt die eine Singstimme ab – und der Ensembleklang, diese ferne Musik, beginnt aufzublühen. Zwischen Sprechen und Singen bewegt sich die dreifache Unbekannte. Sie folgt ihren Träumen, ihren Begegnungen, und wir erlangen nie die Gewissheit, ob sie alles nur herbeisehnt und fantasiert oder ob sie etwas davon erlebt. Es bleibt zweitrangig, denn es geht ja um das Innenleben dieser Frau. Dafür entwickelt Dayer eine ungemein subtile Klangsprache, präzis im Instrumentalsextett (das Ensemble Opera Nova unter Michael Richter in der längst zum Standard gewordenen Pierrot-Besetzung plus Schlagzeug), sehr kantabel im Gesang (ja, Dayer kann für Stimmen schreiben), melodiös und expressiv, manchmal in einer madrigalesken Vielstimmigkeit. Das hilft uns, in die Person einzutauchen. Die Texte sind so verknappt, dass sie fast nur andeuten. Dayer weitet sie durch Wiederholungen und Variationen wieder aus, spiralförmig und in den besten Momenten sogartig. Die Unbekannte treibt gleichsam in ihr Inneres. Das Bühnenbild von Barbara Pfyffer zeigt denn auch eine Art Achterbahn, auf der die Gefühle ins Strudeln geraten. Nina Russi hat das Stück sehr dezent und unspektakulär in Szene gesetzt.
So führt Der Traum von Dir durch die nahezu siebzig Minuten, durchaus intensiv, wenngleich es schliesslich doch etwas zu wenig ins Traumhafte abhebt bzw. in dessen Abgründe hinabweist. An jenem Punkt, wenn das Trockeneis auf die Studiobühne strömt und alles noch irrealer werden könnte, verharren Text und Gesang bei den Vorwürfen an den von ferne Geliebten. An diesem Punkt stockt auch die emotionale Dramaturgie des Stücks, kommt sie nicht weiter. Das «Ich, ich, ich»-Gestammel am Schluss, das Verharren auf einem repetierten Ton sind eher Behauptungen einer psychischen Gebrochenheit, als dass sie nochmals eine Ebene tiefer führen würden. Wer will, mag das freilich auch als Ausweglosigkeit einer in sich verlorenen Person deuten …
PS: Uraufführung von Der Traum von Dir war am 2. Dezember auf der Studiobühne des Opernhauses Zürich. Es gab insgesamt nur vier Darbietungen bis 9. Dezember. Die Zürcher Oper hat weitere Kammeropern für das Ensemble Opera Nova in Auftrag gegeben.
Bildlegende
Die Unbekannten I, II, III: Soyoung Lee, Kismara Pessatti, Hamida Kristoffersen;
der Schriftsteller: Cody QuattlebaumFoto: T+T Fotografie – Tanja Dorendorf