Take it and run away

Keiner schafft im leeren Raum. Die meisten Künstler bedienen sich gern und ausgiebig anderswo. Wie sie das tun, zeigt nun eine Ausstellung im Museum Tinguely.

Blick in die Ausstellung. Foto: Daniel Spehr

Es beeindruckt schon jedes Mal von Neuem, über was für Schätze die Paul-Sacher-Stiftung Basel (PSS) verfügt. Sie könnte wohl wahllos etwas davon ausstellen, und schon wäre man von der Aura der Autografen und Zeugnisse fasziniert. Umso schöner, wenn sie sich auf einen Komponisten konzentriert oder, wie hier, auf ein ziemlich aktuelles Thema: «Re-Set». Es geht – in den Unterlagen finden sich zwei Untertitel – um Aneignung, Rückgriff und Fortschreibung in Musik und Kunst seit 1900. Das hat in Zeiten des Sampelns und Remixens Konjunktur, aber es gibt dazu eine lange Tradition.

In vier Räumen des Tinguely-Museums geht die PSS dem Thema nach: bei Fremd-, Eigen- und Volksmusikbearbeitungen und in der Beziehung zur populären Kunst. Ein schöner Katalog mit zahlreichen kundigen und durchwegs gut lesbaren Artikeln begleitet die Ausstellung. Mit einem I-Pad ausgestattet kann man sich auf den Weg machen, die gezeigten Exponate auch in ihrer Klanggestalt erleben und so den Eindruck vertiefen.

Zunächst sind da die Beispiele, bei denen sich Komponisten auf Kollegen aus der Geschichte beziehen. Mit der Bach-Verehrung (hier vertreten durch Webern, Kagel, Gubaidulina) könnte man gewiss allein eine Ausstellung füllen, zum Glück kommen auch Machaut (bei Birtwistle, Kurtág und Sciarrino), Gesualdo (bei Strawinsky, Sciarrino und Klaus Huber), Beethoven (bei Kagel) und Satie (via Debussy) zum Zug. Schönbergs Klavierstücke op. 19 sind (eine beliebte Aufgabe für Kompositionsschüler) in Instrumentationen von Rihm, Holliger und Younghi Pagh-Paan vertreten.

Der zweite Raum gewährt einen Blick in den Schaffensprozess, wenn nämlich Komponisten ihre eigenen Werke bearbeiten, verbessern, neu arrangieren, wie es Strawinsky mit dem Feuervogel tat oder Webern mit den Rilke-Liedern. Boulez, Maderna, Ligeti oder Rihm verpflanzten Teile vom einen Stück in ein anderes oder trieben Kernideen weiter. Da verfügt die PSS über alles erdenkliche Material, so dass sie die verschiedenen Stufen der Arbeit minutiös und augenfällig belegen kann.
 

Boshaftes und Abgründiges fehlt

Volksmusik dann im dritten Saal, ostjiddische Lieder bei Milhaud und Stefan Wolpe, dazu die jahrelange Forschungsarbeit von Bartók, Veress und Lutosławski und ihre Anverwandlung in Kompositionen. Das ist manchmal sehr nah bei den Quellen, überschreitet aber etwa bei Berio, Reich und Holligers Alb-Chehr die Grenze zu einer imaginierten Volksmusik. Etwas verwundert nimmt man hier doch einige Absenzen zur Kenntnis: Henze (der auch bei den Bearbeitungen fehlt, etwa mit seiner bissigen Orchestration von Wagners Die beiden Grenadiere) oder Globokar. Das wirkt, als winde man sich um alle politischen Implikationen.

Der vierte Raum schliesslich fällt daneben ab, sein Titel wirkt etwas verräterisch: «Unterschwellig elitär. Popularisierung und Nobilitierung». Vielleicht wollte man da etwas Populäres draufsetzen und griff deshalb zu Filmausschnitten aus Disneys Fantasia (mit Strawinskys Sacre du Printemps) und Kubricks 2001: A Space Odyssey (mit Ligeti). Nur hat das wenig mit dem Thema zu tun. Entsprechend isoliert steht es neben den anderen Exponaten. Gewiss gibt es auch da etwas zu entdecken, Beatles-Bearbeitungen nicht nur von Berio, aber sonst wirkt dieser Teil schwammig, schnell vollgesogen, schnell wieder ausgedrückt. Vor allem wird hier deutlich: Die Ausstellung, so vielfältig sie glänzt, hat wenig Reibungsflächen und keine Sprengkraft. Natürlich gibt es immer Absenzen zu monieren, aber es ist schon bezeichnend, was hier fast völlig fehlt: das Boshafte und das Abgründige, so als habe man es umschiffen wollen. Diese Ausstellung ist sehr lieb.

Da wären Kontrapunkte nötig. Die fänden sich allenfalls im Untergeschoss. Vorangestellt (und im Katalog abwesend) ist der Beitrag des Tinguely-Museums, eine kleine Schau mit Werken, die von Duchamps berühmtem Urinoir ausgehen. Ganz zu den Musikexponaten will das doch nicht passen. Mag sein, dass in der bildenden Kunst, wie Hausherr Roland Wetzel bei der Vernissage sagte, «Re-Set» etwas anderes bedeutet als in der Musik, aber vielleicht hätte es doch schlüssigere Beispiele gegeben – auf Duchamps bezogen sich nicht wenige Musiker. Es bleibt also noch etwas übrig für eine weitere Ausstellung.
 

Museum Tinguely, bis 13. Mai 2018

Katalog, hg. von Simon Obert und Heidy Zimmermann; 328 S., reich illustriert; Mainz, Schott, 2018; ISBN 978-3-7957-9885-7; Fr. 35.— während der Ausstellung.

www.tinguely.ch
 

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