Raff-Archiv in Lachen eröffnet

Anfang September wurde in Lachen am oberen Zürichsee das Joachim-Raff-Archiv mit einem Festakt, Musik und einem internationalen Symposium offiziell zugänglich gemacht.

Joachim Raff (1822-1882), Stich von August Weger (1823-1892) «nach einer Photographie», Leipzig

Joachim Raff (1822–1882) ist längst ein Geheimtipp unter den Verehrern deutscher Musik der Spätromantik. Seine sämtlichen Sinfonien, Konzerte, Kammermusiken und Klavierwerke wurden längst auf CD eingespielt, und Neuausgaben seiner Werke erscheinen seit zwanzig Jahren, beispielsweise in der Edition Nordstern, Stuttgart. In der Tat füllt der Komponist manche Repertoirelücke, wo es – zumal in der Kammer- und Konzertmusik – wenige zeitgenössische Vergleichsstücke gibt. Als ein von Mendelssohn Geförderter und in den 1850er-Jahren als Mitglied des Liszt-Kreises, später als ein mit Hans von Bülow und Clara Schumann verbundener Komponist stand er beiden damaligen Richtungen nahe, den Konservativen (Brahms) wie den Neudeutschen (Liszt, Wagner). Raff war neben seiner kompositorischen Tätigkeit auch als Musikschriftsteller und -pädagoge aktiv, zuletzt als Direktor des Hoch’schen Konservatoriums in Frankfurt am Main.

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Res Marty am Festakt zur Eröffnung des Raff-Archivs. Fast schon ein halbes Jahrhundert lang setzt sich Res Marty für die Aufarbeitung von Joachim Raffs Leben und Werk ein. Foto: Carlo Stuppia, Lachen

Ein Kompetenzzentrum für die Raff-Forschung

Dass Raff in Lachen am Zürichsee geboren worden war, hat längst das Interesse lokaler Musikliebhaber geweckt, allen voran Res Marty, der bereits vor 46 Jahren, zum 150. Geburtstag des Komponisten, die Raff-Gesellschaft in Lachen mitgegründet hat. Vor zwei Jahren wurden diese Aktivitäten intensiviert, und mit Severin Kolb und Stefan König bildete sich ein wissenschaftlicher Stab, der nun auch mit klug aufgebauten Datenbanken die Grundlage für eine zielstrebige Forschung gelegt hat. Manuskripte und Frühdrucke aller Werke (zumindest in Reproduktionen) wurden zusammengesucht, über 3000 Briefe (mit ausführlichen Regesten) erfasst, Bilder und biografisches Material gesammelt. Lachen sollte zu einem «Kompetenzzentrum» der Raff-Forschung nach dem Vorbild etwa der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe oder des Max-Reger- bzw. Martinů-Instituts werden.

Nun ist es dank dem Eingreifen einer Stiftung kurzfristig sogar möglich geworden, gediegene Räume in dem Haus zu beziehen, das an der Stelle von Raffs Geburtsstätte steht. Endlich haben sich Schweizer Musikwissenschaftler auf der Suche nach Dissertationsthemen auch dieses eher zufälligen Lokalbezugs angenommen; denn Raffs Geburt am oberen Zürichsee war nur der Tatsache geschuldet, dass sein Vater notgedrungen in die Schweiz flüchtete, um in seiner schwäbischen Heimat der Einziehung ins Militär zu entgehen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Raff schon mit 23 Jahren die Schweiz endgültig verlassen hat und sein ganzes Interesse fortan dem Musikleben nördlich des Rheins galt.

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Ein Treffpunkt während des Symposiums ist der Ort, wo Raffs Geburtsstätte stand. Hier hat nun das Archiv seinen Platz gefunden. Foto: Carlo Stuppia, Lachen

Am 7. September 2018 wurde das Raff-Archiv in einem feierlichen, kulinarischen Festakt in Lachen eröffnet, musikalisch begleitet von Ingolf Turban (Violine), Dmitri Demiashkin (Klavier) sowie dem Duo Sibylle Diethelm (Gesang) und Fabienne Romer (Klavier). In zum Teil launigen Reden wurde vor einer grossen und illustren Feiergemeinde die rosige Zukunft Lachens als Ort der Musikforschung heraufbeschworen. Vor allem lokale Kräfte bestritten am folgenden Abend in der Kirche Lachen ein Konzert, das im Rahmen der Möglichkeiten einen Überblick von Raffs Schaffen, von den Orgelwerken bis zum zweiten Cellokonzert, vermittelte.

Wissenschaftliche Auslegeordnung

Aus Anlass der Archiv-Eröffnung fand zugleich ein internationales wissenschaftliches Symposium statt, das an zwei Tagen (7. und 8. September) unter dem Titel «Synthesen» Joachim Raffs Wirken neuerlich als Gegenstand der Musikforschung etablieren sollte. Dazu wurden vor allem Musikwissenschaftler und eine Musikwissenschaftlerin aus Deutschland eingeladen, die sich mit Raff beschäftigt hatten, und drei Doktoranden aus dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich.

Es wäre zu viel verlangt, schon jetzt umgreifende Forschungsergebnisse aus der eben begonnenen Arbeit zu erwarten. So blieb es in der langen Reihe der Vorträge bei Proklamationen, bei Übersichten über Raffs Errungenschaften in den diversen Gattungen (Klaviermusik, Sinfonik, Kammermusik, Lied, Chormusik) und bei Einblicken in erste Detailstudien zu einzelnen Werken: zum Streichquartett op. 77 und zur niemals vollständig aufgeführten Oper «Samson». Interessanter waren Beobachtungen zum Kontext: Einerseits wurden Raffs Misserfolge als Opernkomponist anhand seiner Kontakte zu dem politisch einflussreichen «Theaterherzog» Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha verständlich gemacht; andererseits wurde deutlich, dass Raff ein Sonderfall war: ein Komponist, der seine eigenen Werke kaum selbst spielte und höchst selten dirigierte, mithin also auf ein Netzwerk von Interpreten von Breslau bis Boston angewiesen war.

Der raschen und reichlichen Rezeption raffscher Orchestermusik in den USA galt ein weiteres Referat, das auch den Nachweis lieferte, wie rasant die Beliebtheit von Raffs Musik nach der Jahrhundertwende in der Neuen wie auch der Alten Welt nachliess. Der erhellendste Beitrag zeigte, wie direkt sich die idealistische Philosophie jener Epoche in Raffs kompositorischem Denken und in seiner Pädagogik niederschlug. Ein Symposiumsbericht soll im kommenden Jahr erscheinen.

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Das Kernteam des Raff-Archivs: Stefan König, Yvonne Götte, Res Marty, Hans-Joachim Hinrichsen, Severin Kolb, Nathan Labhart (von links). Foto: Carlo Stuppia, Lachen

So erhellend manche Äusserungen waren, so bleibt doch die Frage zurück, ob Raffs Zeit im Konzertsaal jemals wieder kommen oder ob er nicht vielmehr ein Forschungsfeld für wenige Musikhistoriker bleiben würde. Denn sein Output an Werken unterschiedlichen Umfangs und Gewichts ist riesig im doppelten Wortsinn: Einerseits tummelte er sich in fast allen Gattungen, andererseits zeichnen sich seine Werke durch bemerkenswerte Weitschweifigkeit aus. Man darf aber gespannt sein, ob die Grundlagenforschung im neuen Lachener Archiv bis zu Raffs 200. Todestag in vier Jahren zu Erkenntnissen führen wird, welche in der Folge auch eine grundsätzliche Neueinschätzung der Musik aus der Feder dieses musikalischen Gourmands erlauben.



Neueste Publikation

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Cover der Broschüre

ks. Im Frühjahr 2018 hat die Kulturhistorische Gesellschaft der March eine reich bebilderte Broschüre herausgegeben. Sie spürt Raffs Verbindungen in die Welt und wieder zurück nach Lachen nach. Archivleiter Severin Kolb hat die verschiedenartigen Texte, zirka 80 Fotos, zahlreiche Zitate und drei Anhänge zu einer reichhaltigen Dokumentation zusammengefügt. Beiträge geliefert haben:

Res Marty: «Raff-Renaissance» in der March. 45 Jahre Joachim-Raff-Gesellschaft (1972-2017)
Severin Kolb: Auf den Spuren eines «denkenden Musikers». Ein Joachim-Raff-Archiv für Lachen
Walter Labhart: Raff als Anreger von Tschaikowsky, Mahler und Debussy (Vortrag in der Konzertsaison 2012/2013)
Rainer Bayreuther: Joachim Raffs «König Alfred» und die nationale Bewegung in Deutschland (Vortrag in der Konzertsaison 2012/2013)
Hans-Joachim Hinrichsen: Hans von Bülow und Joachim Raff. Die Geschichte einer Freundschaft (Vortrag in der Konzertsaison 2012/2013)
Lion Gallusser, Dominik Kreuzer, Severin Kolb: Von der grossen Oper zum Musikdrama, vom Musikdrama zur komischen Oper – Raffs «Samson» im Kontext seines Opernschaffens
(Auszug aus der «Samson»-Broschüre der Joachim-Raff-Gesellschaft [2017)]

Joachim Raff
Von der March in die Welt – und zurück

Marchring-Heft Nr. 61/2018, hg. Marchring, Kunsthistorische Gesellschaft der March, Red. Severin Kolb, Zürich, Leiter des Joachim-Raff-Archivs, 132 Seiten, Fr. 20.-, zu beziehen über www.marchring.ch

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