Dirigent Richard Wagner und die Folgen

Ein Symposium an der Hochschule der Künste Bern beleuchtete Auswirkungen von Wagners Schrift «Über das Dirigieren».

Diskussionsrunde am HKB-Symposium. Foto: Daniel Allenbach/HKB

Richard Wagner veröffentlichte die erste bedeutende Abhandlung über das Dirigieren und Interpretieren. Seine Ansätze, wie das klassische und frühromantische Orchesterrepertoire aufzuführen sei, avancierten zum Massstab für die nachfolgenden Generationen von Dirigenten. Wie aus einer nicht systematischen und oft politisch problematischen Schrift eine Dirigiertradition erwachsen konnte, die bis in unsere Gegenwart einflussreich bleibt, war Gegenstand des Symposiums der Hochschule der Künste Bern in Kooperation mit der Royal Academy of Music, das am 2. und 3. November 2018 in Bern stattfand.

Über das Dirigieren wurde 1869 in der Neuen Zeitschrift für Musik in Leipzig in acht Teilen abgedruckt. Chris Walton (Bern) beleuchtete die Umstände der Entstehung dieser Schrift, die geprägt ist von einer antisemitisch gefärbten und intellektualisierten Sprache, welche die Willkür, die Planlosigkeit sowie die Unsicherheit ihres Verfassers nicht zu kaschieren vermag. Dennoch zählt das Traktat zum Einflussreichsten, was je über das Dirigieren geschrieben wurde, und kein Autor, der sich mit diesem Thema befasst, kommt darum herum, sich auf Wagner zu beziehen. Die subjektiven, ungeordneten Gedanken und Erkenntnisse Wagners gehen nicht zuletzt auf seine praktische Arbeit mit dem Orchester der Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich ab 1850 zurück. In der Zentralbibliothek Zürich finden sich noch heute die Orchesterstimmen, die Wagner für seine Aufführung von Wolfgang Amadé Mozarts Jupiter-Sinfonie (KV 551) annotieren liess. Christoph Moor (Bern) zeigte auf, welche Rückschlüsse sich in Bezug auf interpretatorische und pädagogische Ansätze aus den Eintragungen im Stimmenmaterial ziehen lassen und wo diese Quelle für die Interpretationsforschung an ihre Grenzen stösst.
 

Wagners Einfluss

Wie Wagners Vermächtnis sich auf die nachfolgenden Generationen auswirkte, illustrierten im Folgenden Schlaglichter auf namhafte Dirigentenpersönlichkeiten. Wie für ihr Vorbild, hatte auch für Wilhelm Mengelberg und Felix Weingartner das Werk Ludwig van Beethovens einen bedeutenden Stellenwert. Frits Zwart (Den Haag) erläuterte, wie Mengelberg sich zeitlebens für Beethovens und Gustav Mahlers Musik stark machte und was seine Interpretationen charakterisierten. Aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtete Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel) Weingartners Beethoven-Ästhetik, die jahrzehntelang mitunter als höchste Autorität für die Interpretation von dessen Sinfonik galt. Die Untersuchung von Weingartners Orchestrierung der Hammerklaviersonate (op. 106) sowie die Analyse seiner Retuschen-Praxis erhellten sein Interpretationsverständnis und seine Nähe zu den wagnerschen Maximen. Dass Weingartners Schrift über das Dirigieren denselben Titel trägt wie jene von Wagner, zeigt die Verbundenheit mit dem «Meister». Weingartner verstand seine Schrift als Rückbesinnung auf Wagner und als Weiterführung von dessen Ansätzen in einer Zeit, als der Kampf zwischen sachlicher und expressiver Interpretation die Musikwelt polarisierte.

Anton Weberns annotierte Partituren sind nicht in grosser Zahl erhalten. Dennoch enthüllte der Einblick in seine «Selbstvorbereitungen», vorgetragen von Regina Busch (Wien), eine Interpretationsästhetik, die immer wieder auf wagnersche Prinzipien rekurriert. Besonders die Fragen nach der Modifikation des Tempos und der klanglichen Transparenz scheinen zentral für die in der Neuen Wiener Schule verankerten Interpretationsansätze Weberns gewesen zu sein. Christopher Fifield (London) bezeichnete Hans Richter als Wagners Faktotum. Tatsächlich ist Richters Lebenslauf geprägt von der Person und der Musik Wagners sowie dessen interpretatorischen Vorstellungen. Diese erschliessen sich zwar nicht direkt aus Annotationen in Partituren, doch hatte Richter als Wagner-Dirigent und Kopist der Meistersinger-Partitur Wagners Ideen tief verinnerlicht. Die Meistersinger-Reinschrift birgt übrigens das amüsante Geheimnis, dass Wagner den allerletzten Ton, das C der Kontrabässe, selbst notiert hat.
 

Schenkers Kritik

Die Antwort Heinrich Schenkers auf Wagners Schriften Über das Dirigieren und Zum Vortrage der neunten Symphonie Beethovens von 1873 war eine Kritik mit dem Titel Beethovens Neunte Sinfonie. Eine Darstellung des musikalischen Inhalts unter fortlaufender Berücksichtigung auch des Vortrages und der Literatur. Darin schreibt Schenker ausführlich über aufführungspraktische Aspekte. Er unterstellt Wagner, dessen theatralischer Zugang zu dieser Sinfonie zerstöre die Natur des Werks. Roger Allen (Oxford) referierte über die unterschiedlichen Lesarten der Beethoven-Partitur und zeigte anhand der Interpretation Wilhelm Furtwänglers die praktische Umsetzung der schenkerschen Idee. Diese beruht auf der Annahme, eine Aufführung lebe von einem rekreierenden Prozess der Improvisation, die zu einem organischen Ganzen verschmolzen werde.

Raymond Holden (London) thematisierte Richard Strauss als Mozart-Dirigent. Nebst Aufnahmen und Texten kam den annotierten Partituren des Bülow-Schülers eine wichtige Rolle zu. Dabei zeigte sich eindrücklich, dass die Interpretationsforschung mit Annotationen kritisch umzugehen hat. Der Vergleich zwischen Straussʼ Aufnahmen und seinen Eintragungen in den Partituren erwies sich als nicht immer kongruent. Die Analyse der Annotationen kann also bestenfalls eine Momentaufnahme abbilden und lediglich eine Anregung zum eigenen kreativen Umgang mit dem Werk sein.
 

Kreativität der Interpretationsansätze

Wie sich eine solche Kreativität, die von den unterschiedlichsten Interpretations-Ansätzen gespiesen ist, in der Praxis manifestieren kann, demonstrierte Raymond Holden in einem öffentlichen Workshop. Das eigens für das Symposium aus Studierenden der Musikhochschulen Bern, Luzern und der Royal Academy London zusammengestellte Orchester spielte die Sinfonie Nr. 29 (KV 201) und die Jupiter-Sinfonie (KV 551) von Mozart in unterschiedlichen, den Annotationen verschiedener Dirigenten entsprechenden Interpretationen. So wurde plastisch erlebbar, wie Wagners Grundideen von Transparenz und Tempomodifikation, obschon in unterschiedlicher Umsetzung, zentrale Parameter einer lebendigen und expressiven Interpretation darstellen.
Das Konzert mit den beiden Sinfonien unter der Leitung von Raymond Holden bildete den fulminanten Schlusspunkt des anregenden Symposiums, das gleichzeitig auch das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Berner Projekt Annotierte Dirigierpartituren als Primärquellen für die Erforschung der Interpretationsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert: Richard Wagner und seine Nachfolger in der zentraleuropäischen Dirigiertradition beschloss.
 

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