Afrikanische Musik und europäischer Blick

Der panafrikanische Musikkongress Acces in Nairobi gab einen Einblick in den kulturellen Selbstfindungsprozess, den das postkoloniale Afrika heute durchmacht. Es war ein innerafrikanischer Diskurs, bei dem Europa bestenfalls eine Randnotiz darstellte.

Kasiva Mutua stellte diese Frage am Acces-Kongress. Foto: Max Nyffeler

Musikalisch gesehen ist Afrika ein Eldorado der Rhythmen, doch Frauen als Perkussionistinnen sind immer noch eine Seltenheit. Genau so eine sass aber nun beim panafrikanischen Musikkongress Acces in Nairobi auf dem Podium: Kasiva Mutua aus Kenia. Die dunkelhäutige Powerfrau gab Antwort auf die selbstgestellte Frage: «Wer sind wir im 21. Jahrhundert?» Sie meinte damit aber nicht nur die Frauen, deren Kampf um Gleichberechtigung hier zäher verläuft als in Europa. Im Blick hatte sie die Identität der Menschen in den zwischen Stammeskultur und globalisierter Moderne eingespannten afrikanischen Gesellschaften und die Rolle, die die Musik in diesem schwierigen Prozess der Selbstfindung spielen kann.

Kasiva Mutua ist wie viele der heutigen Jungen aus dem Dorf in die Stadt migriert und gehört zu den wenigen, die hier ihre Karriere gemacht haben. Sie will die Kultur, in der sie aufgewachsen ist, in das neue, urban-mediale Umfeld hineintragen und ist sich bewusst, dass sich Funktion und Klang der Instrumente dabei ändern: «Das ist African Fusion. Tradition geht auf im modernen Stil.» Mit der Verwendung von Elektronik verkompliziert sich dieser Prozess zusätzlich. «Da stellt sich die Frage: Soll man das Schlagzeug nicht besser gleich sampeln?» Damit meint sie aber nicht Avantgarde à la Darmstadt, sondern die DJ-Praxis und Studioproduktionen. «Modern» und «Avantgarde» bedeuten in Afrika etwas anderes als in Europa.
 

Dynamische Transformationsprozesse

Was die Perkussionistin zur Diskussion stellte, betrifft nicht nur Musikalisches. Dahinter werden die gesellschaftlichen Transformationsprozesse im heutigen Afrika sichtbar, und diese entfalten offensichtlich eine gewaltige Dynamik. Die virulente Frage des kulturellen Erbes stellt sich auch im Bereich der Musikerziehung. Die Frage, wie man die weitgehend auf mündlicher Überlieferung beruhenden eigenen Musiktraditionen curriculumfähig machen kann, ist neu und bewegt die Gemüter.

Zwei mit Podiumsdiskussionen, Präsentationen und Workshops vollgepackte Tage im Kenia National Theatre in Nairobi, dazu drei Konzerte mit Musikgruppen aus Ost- und Westafrika: der Musikkongress Acces 2018 spiegelte die rasante Entwicklung der afrikanischen Musik in aller Breite. Träger ist die vor fünf Jahren mit Unterstützung der Siemens-Stiftung und des Goethe-Instituts gegründete Music in Africa Foundation mit Sitz in Johannesburg. Sie hat sich in wenigen Jahren zu einem unverzichtbaren panafrikanischen Netzwerk entwickelt. Ihre Webseite musicinafrica.net ist mit inzwischen rund 18 000 Einträgen von Musikern, Produzenten und Institutionen das Nervenzentrum, von dem alle Impulse ausgehen. Acces fungiert als ihr physisches Schaufenster. Hier treffen sich alljährlich aktive Mitglieder aus dem ganzen Kontinent zum Gedankenaustausch und zur Entwicklung neuer Projekte.
 

Austausch relativiert das Eigene

Es ist ein innerafrikanischer Diskurs, der hier geführt wird. Europa spielt eine Nebenrolle, und wenn europäische Kulturinstitute involviert sind, dann nur als Veranstaltungsorte oder mit logistischer Unterstützung. Pro Helvetia hatte Germaine Gamiet, Mitarbeiter der Niederlassung in Johannesburg, als Beobachter nach Nairobi entsandt. Die Stiftung konzentriert sich im Musikbereich auf den Austausch von Kulturschaffenden zwischen der Schweiz und dem südlichen Afrika. Die Eingeladenen können die afrikanische Musikszene kennenlernen und mit einheimischen Musikern Projekte entwickeln, während im Gegenzug Afrikaner Gelegenheit bekommen, an Gemeinschaftsprojekten und Festivalauftritten in der Schweiz teilzuhaben. Der Schwerpunkt liegt auf Jazz, experimenteller U-Musik, Worldmusic und Pop. Im Jazz kann man auf eine jahrzehntelange Tradition der Zusammenarbeit unter Perkussionisten zurückblicken. Was in Europa «Neue Musik» genannt wird, spielt dabei kaum eine Rolle – das afrikanische Publikum hat andere Interessen. Der Blick von aussen auf die europäische Musik ist heilsam. Er relativiert so manche Überheblichkeiten der hiesigen Szene.

Fehlende Infrastrukturen

Die Diskussionen in Nairobi machten deutlich, dass Identität in Afrika nicht einfach als kulturelles Konstrukt verstanden wird wie in Europa, sondern stets an wirtschaftliche Interessen gekoppelt ist: Welche Chancen bieten sich uns mit den neuen Medien? Wie wirkt sich die durch das Internet vorangetrieben Globalisierung des Musikbusiness auf die afrikanische Musikwirtschaft aus? Solche Fragen bewegen heute die afrikanischen Musiker. Grosses Interesse fanden deshalb die Panels zum schnell wachsenden Streamingsektor und zur Wahrnehmung der Urheberrechte. Laut neuester Statistik der Cisac, der internationalen Vereinigung der Urheberrechtsgesellschaften, beträgt der Anteil des riesigen afrikanischen Musikmarkts an den weltweiten Rechteeinnahmen gerade einmal lächerliche 0,8 Prozent. Grund sind die fehlenden administrativen und rechtlichen Voraussetzungen. Bei der Music in Africa Foundation steht dieses Thema deshalb ganz oben auf der Traktandenliste. Und was trägt Europa dazu bei? Nützlicher als alle selbstgefälligen Moraldiskussionen über Migranten wäre jedenfalls die Unterstützung beim Aufbau der entsprechenden Infrastrukturen in Afrika. Doch in dieser Hinsicht sind wir offenbar noch Entwicklungsländer.

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