Pilze, Personen, Harmonien

«44 Harmonies from Apartment House 1776»: Christoph Marthaler inszeniert am Zürcher Schauspielhaus John Cage – und vice versa … Wie soll das gehen?

Foto: © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie,Foto: © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Musik, hymnisch, wenn auch etwas lose, gespielt von vier Celli: Im Konzert würden wir sie wohl problemlos anhören, aber im Theater erwarten wir etwas dazu, im marthalerschen erst recht, irgendetwas. Aber das dauert hier, etliche schöne lange Minuten. Irgendwann gehen die herumsitzenden und zuhörenden Schauspieler raus – und kommen gleich wieder rein. Sitzen wieder da und weiter. Erheben sich erwartungsvoll, wenn die Cellistinnen (Hyazintha Andrej, Isabel Gehweiler, Nadja Reich, Vanessa Hunt Russell) die Seite wenden. Nein, es ist noch nicht zu Ende! Und warten weiter. Sie sind wie wir, die Zuschauer, sie sind wir, Cage hörend. Wir werden hier inszeniert, in die Szene gesetzt.

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Diese sehr lange weilende Szene ist das Zentrum des Abends. Für den Musicircus Apartment House 1776, geschaffen 1976 anlässlich des Zweijahrhundertjubiläums der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, komponierte John Cage auch diese «44 Harmonies», die wie verlorene Lieder wirken. Sie bestehen aus Fragmenten, ex- oder besser: subtrahiert aus Hymnen von Komponisten, die 1776 nicht älter als zwanzig waren, etwa William Billings oder Andrew Law. Die Schönheit der Melodien bleibt dabei gewahrt, wirkt aber durchbrochen, zersetzt, instabil, irgendwie auch verloren und verlassen. Solche Subtraktion, solche Verlorenheit und Stille musste einen wie Christoph Marthaler ansprechen. Bei der Produktion ±0 (Ein Basislager), erarbeitet in der grönländischen Hauptstadt Nuuk, entdeckten er und sein Ensemble die Stücke und planten, weiter damit zu arbeiten. In 44 Harmonies from Apartment House 1776 erklingen sie nach etwas über einer Stunde. Da ist der Abend am Wendepunkt. Danach ist er anders als davor. Zuvor konnte sich das marthalersche Theater gleichsam hemmungslos entfalten. Dabei geht es beileibe nicht nur um Cage, sondern um «Personen, Harmonien, Pilze und Harmonien», wie Ueli Jäggi in seiner Einleitung ankündigt. Mit der Rückkehr der Marthaler-Familie in den Schiffbau, wo wir einst eine triumphale und doch elend endende Ära des Schauspielhauses erlebten, kehren nach fünfzehn Jahren auch die typischen Marthalerismen zurück: Schauspieler (neben Jäggi noch Benito Bause, Marc Bodnar, Raphael Clamer, Elisa Plüss, Graham F. Valentine und Susanne-Marie Wrage) streunen auf der Bühne herum; Bendix Dethlefssen, der musikalische Leiter, spielt an Klavier und Harmonium. Da gibt es Verbeugungsrituale, einen teuflisch verrenkten, mit Stühlen getanzten Tango, eine Litanei der sonderbarsten Pilzbezeichnungen, einen in den bassesten Keller absaufenden Song usw. Das alles wie gewohnt in der Retro-Szenerie von Anna Viebrock, halb gute Stube, halb Kirchgemeindesaal. Dazwischen geistert Bernhard Landau als Cage umher – blau mit Jeans und Joppe, ein wandelndes Zitat, über Pilze referierend. Am Ende des achtviertelstündigen Abends erscheint er als Gärtner mit einer Giesskanne und tränkt die Notenständer.

Doppelt geordnete Anarchie

Mit seiner Tragikomik ist’s Marthaler vom Feinsten. Allerdings ist es ein wenig zu bedauern, dass Cages Musik nicht mehr zum Zug kommt. Andere Stücke von einem Song wie A wonderful Widow of Eighteen Springs über die performative Water Music bis hin zu Lectures wie Silence hätten das ästhetische Feld weiter geöffnet. Stattdessen kehrt Marthaler zu den vertrauten Säulenheiligen mitteleuropäischer Musikgeschichte zurück, zu Bach, Beethoven, Schumann, Wagner, Mahler – und Satie. Das ist halt erkennbarer – und immer noch ungemein spassig und melancholisch. Immerhin ergibt sich daraus ein besonderes Wechselspiel. Es ist, als würde Marthalers Erzählweise durch die cagesche Zufallsoperation gedreht – und Cages Musik durch Marthalers Blick gefiltert. Es ist eine doppelt geordnete Anarchie.

Zuvor also dürfen wir uns fast naiv und etwas nostalgisch dem Zauber des marthalerschen Theaters überlassen. Nach der (vom Theatralen her gesehen) monotonen Durststrecke der Harmonies findet der Abend nicht mehr zu sich, findet er nicht mehr weiter. Ein gewiss gekonntes, aber nun nochmals sehr langwieriges wortezerschrumpelndes Sextett setzt ein. Das kreist nur noch zu Ende, entwickelt auch nicht mehr die bei Marthaler gewohnte Virtuosität des Scheiterns. Der Bach-Choral Es ist genug drückt es etwas hilflos aus. Und es endet mit Mahlers Adagietto, wie ein Tod in Venedig, allerdings nicht am Strand, sondern im Sandkasten. Und das ist es, was ich der Produktion nicht so recht verzeihen mag, diesen Schluss mit Mahler, dessen Melodie mir noch tagelang – anstelle einer anarchischen Harmonie – im Kopfe dreht …
 

Christoph Marthaler und Ensemble: 44 Harmonies from Apartment House 1776

Schauspielhaus Zürich, Schiffbau, Premiere: 6. Dezember 2018, Aufführungen vorerst bis 9. Januar 2019

Link zur Produktion im Schauspielhaus

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