Schneelandschaft mit Jägern und Feuer

Beat Furrer hat im Auftrag der Staatsoper Berlin eine ebenso berückende wie irritierende Winteroper komponiert: «Violetter Schnee».

Martina Gedeck (Tanja) und Ensemble. Foto: Monika Rittershaus,Foto: Monika Rittershaus

Fünf Menschen, drei Männer und zwei Frauen, eingeschlossen in einem Haus oder einer Hütte, fernab, in tiefem Schnee. Kein Entkommen. Und es schneit weiter. Die Uraufführung der neuen Oper von Beat Furrer hätte nicht aktueller sein können als in diesen Januartagen, in denen der Alpenraum unter den weissen Massen versinkt. Die Ausgangslage ist typisch für den russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin, der ähnliche Situationen schon in anderen Erzählungen, etwa in Der Schneesturm von 2010, entwickelt hat. Und wie stets bleibt es auch hier nicht bei der blanken Realität. Gewiss, da gibt es kurze Liebesszenen, fast mit Hüttenromantik, gibt es ein Quartett über den wärmenden Tee. Peter fürchtet sich vor der ärztlichen Behandlung, sollte er halb erfroren geborgen werden. Es folgen aber auch drei Ensembles der Vereinsamung, Jacques singt eine Arietta über die dunkle Materie, Silvia erzählt, wie in ihrer Bratsche eine brummende Hornisse heranwuchs und das Instrument sprengte. Eine Tote taucht auf, die Situationen werden immer irrealer, surrealer. Verbrannte der Tisch? Essen die fünf den Schnee? Am Ende entführt der Stoff ins Kosmisch-Fantastische. Die Ungewissheit der Lage führt zur Ungewissheit über das Universum. Das ist Sorokin.

Vor acht Jahren skizzierte er für Beat Furrer diese Erzählung. Dorothea Trottenberg übersetzte sie, und Händl Klaus, längst einer der gefragtesten Librettisten der Neuen Musik, schuf daraus eine sprachmusikalische Textgrundlage, auf der Furrer nun in seiner neuen Oper Violetter Schnee eine ganze Palette musikalischer Formen auf abwechslungsreiche und kurzweiligere Weise (als früher) ausspielen kann: Duette, die durchaus etwas Opernhaftes haben, Arietten, Ensembles, alles mit hoher Textverständlichkeit übrigens; dazu im Hintergrund Chorgesänge (mit dem Vocalconsort Berlin), in denen Furrer ein Weltuntergangsszenarium von Lukrez (nicht zum ersten Mal) einbringt – quasi als antiken Kommentar zum aktuellen Geschehen. Dazwischen blüht das Orchester auf, in allen Farben vom blassen Weiss bis ins kräftige Rot und zurück ins Violett. Matthias Pintscher bringt die Musik mit der Staatskapelle Berlin auf luzide Weise zum Klingen, und auf der Bühne agiert ein hervorragendes Vokalquintett mit Anna Prohaska, Elsa Dreisig, Gyula Orendt, Georg Nigl und Otto Katzameier. Staatsopernniveau im positivsten Sinn.
 

Brueghel-Bilder in dämmriger Unschärfe

Das ist die eine Faszination, die andere ergibt sich aus der kongenialen Inszenierung durch Claus Guth und sein Team. Hier fügt sich alles aufs Stimmigste mit Musik und Text zusammen: Bühnenbild (Étienne Pluss), Kostüme (Ursula Kudrna), Video (Arian Andiel) und Licht (Olaf Freese). Wunderbar ist’s, so dem Schneetreiben zuzusehen. Dabei eröffnet sich eine zusätzliche Ebene.

Zur bewegten Ouvertüre etwa sieht man die Projektion eines verschliffenen Schneegestöbers, aus deren Unschärfe sich aber langsam ein konkretes Gemälde herausbildet: die «Heimkehr der Jäger», für einen Zyklus von Monatsdarstellungen 1565 geschaffen von Pieter Brueghel dem Älteren, dem Maler des alltäglichen Daseins mit all seinen Verspieltheiten und Brutalitäten, mit seinen Höhen und Abgründen. Hier erzählt er von den Freuden und Nöten des Winters. Das Bild ist wesentlicher Bestandteil des Stücks und taucht mehrmals auf. Zu Beginn sogleich in der gesprochenen Beschreibung der untoten Tanja (Martina Gedeck), aber auch später immer wieder, zusammen übrigens mit weiteren Brueghel-Bildern. Verlassen die Personen nämlich ihre Hütte, geraten sie aus der Zeit in eine Szenerie des 16. Jahrhunderts. Brueghelsche Figuren ziehen in zeitlupenhafter Langsamkeit vorbei, in patinagetrübten Farben, in dämmeriger Unschärfe.

So finden hier die unterschiedlichen Ebenen auf traumhafte, traumwandlerische Weise zusammen: in einer Art magischem Realismus, narrativ und gleichzeitig unwegsam, von einer schwebenden Emotionalität. Oper tut damit, was sie besonders gut kann, sie übersteigert, sie nimmt den Boden der Realität unter den Füssen. Furrers neues Werk ist heutig und doch verliert es sich … Wo? Das lateinische «Nix» – Schnee verbindet sich da mit dem deutschen Nichts. Dort.

Und warum heisst die Oper Violetter Schnee? In der Schlussszene finden sich die Menschen, nicht nur die Hütteninsassen, sondern auch andere Gestalten aus den brueghelschen Tableaus in der Fläche der Bühnenscheibe. In einer Endzeitvision geht das Licht – der Mond, die Sonne, der Mars – wieder auf. Der Schnee scheint violett. Es ist schön, singen die Menschen, aber sie verstehen das Phänomen nicht. Etwas hat sich verändert, etwas ist passiert, aber wir wissen nicht, was, warum.
 

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«Violetter Schnee» an der Staatsoper Berlin
Ensemble

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