Polyfonie im 21. Jahrhundert

Mitte Mai trafen sich über 1300 Fachleute des Klassiksektors an der Classical:NEXT in Rotterdam.

Foto: Eric van Nieuwland / Classical:NEXT

Mit dem Ausruf Hear it New! als Untertitel eröffnete National Sawdust, ein Veranstalter aus Brooklyn, die diesjährige Classical:NEXT. Im Konzerthaus De Doelen der Stadt Rotterdam trafen sich zum achten Mal Branchenvertreter zu einem viertägigen intensiven Austausch. Diese Mischung aus internationaler Messe, Konferenz und Konzertformaten bietet dem vielgestaltigen Sektor «Klassische Musik» Themen und Raum. Der persönliche Kontakt, das intensive Netzwerken und die Möglichkeit, neue Initiativen zu entdecken, machen für die mehr als 1300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Reiz dieser Konferenz aus, ganz gleich, ob sie Institutionen mit kleinem oder grossem Budget vertreten. Der Gemeinschaftsstand «Swiss Music» bot einer Vielzahl von Schweizer Labels, Ensembles, Festivals und Verbänden die Möglichkeit, sich international zu präsentieren. Organisiert wurde er wie schon in den Vorjahren von der Fondation Suisa, Pro Helvetia und der Schweizerischen Interpretengenossenschaft.
Erstmals fand eine Higher Music Education Pre-Conference mit Vertretern der Musikindustrie statt, eine der raren Begegnungen von Ausbildung und Marktanbietern im Klassiksektor. Die Einbindung der Hochschulen ist essenziell; das Netzwerktreffen des Europäischen Verbands der Musikhochschulen AEC wurde von John Kieser, New World Symphony (CAN), geleitet.
 

Tendenzen des digitalen Musikgeschäfts

Im dichten Konferenzprogramm wurde vertieft über die anhaltenden Herausforderungen des digitalen Marktes diskutiert. Noch immer beispielsweise stehen viele Institutionen und Ensembles vor der Frage, wie ein erfolgreiches digitales Marketing zu leisten sei. Streaming des Live-Konzerts (London Symphony Orchestra)? CD-Produktion oder einmal im Monat ein Track für die Fans (National Youth Choir GB)? Podcast, App, Probenvideos oder professioneller Multi-Media-Auftritt inkl. kuratiertem Backstage-Angebot? Clevere Kommunikation sollte neue (jüngere) Hörer erreichen, das Fundraising unterstützen (für erfolgreiches Crowdfunding ist gutes Storytelling unerlässlich) und die treuen Fans nicht vernachlässigen.

Noch unbestritten ist das Ziel aller kommunikativen Bemühungen: Das «Live-Konzert» soll auch in der Zukunft als Herzstück erhalten bleiben. Kritische Stimmen zu Fragen des Dark Social Web oder nicht beeinflussbaren Algorithmen waren hier nicht zu vernehmen.
 

Frauen weiterhin unterrepräsentiert

Ein Schwerpunkt waren Panels zum Thema Diversität und Gender Equality. Das Austauschformat «Women in Music Breakfast» (Southbank Centre London) hatte ganz ausgesprochen das Thema Geschlechtergerechtigkeit im Fokus. Die Komponistinnen Brigitta Muntendorf und Anna Meredith sprachen mit Gillian Moore über Hürden der beruflichen Entwicklung und Wege, diese zu umgehen. Beide Musikerinnen arbeiten als Multimediakünstlerinnen, haben mangels anderer Möglichkeiten ihre eigenen Ensembles und Formate entwickelt und stützen sich auf gewachsene Gruppen von Fans und Supportern.

Lydia Connolly (HarrisonParrott) fragte, ob auf dem Konzertpodium denn schon Gleichheit in Sichtweite sei. Wenngleich Erfolgsgeschichten wie die von Mirga Gražinytė-Tyla, Alondra de la Parra oder Simone Young unterdessen auch einem breiteren Publikum geläufig sind: In Grossbritannien wurden und werden bisher 5.5 Prozent aller klassischen Konzertprogramme (gelistetet von der Royal Philharmonic Society) von Dirigentinnen geleitet – ein frustrierender Befund. James Murphy betonte denn auch zu Recht, dass nicht die Zeit für eine Veränderung sorge, sich also die Verantwortlichen endlich aus den Komfortzonen begeben und handeln müssten, wollten sie nicht als Relikte eines patriarchalischen Systems weiter die immer ähnlichen Produkte und Programme auf einen übersättigten Markt drücken.

Die Zurückweisung von Zuschreibungen (beispielsweise als «Black Female Composer») sei nicht zielführend und koste, so die australische Dirigentin Nathalie Murray Beale, zu viel Energie. Rollenvorbilder seien unerlässlich, Frauen sollten erzählen, wie (schwer) der Weg zum Erfolg sei –Verschweigen helfe nicht, die Öffentlichkeit solle gesucht und genutzt werden, um immer wieder die Ungleichheiten zu benennen.

Auch im Panel «Composer Gender Equality» erklärte Claire Edwardes, Künstlerische Leiterin des Ensemble Offspring (Australien), dass es einfach keinen Grund gebe, Musikformate und -programme der Gegenwart nicht ausgeglichen zu entwerfen. Aber auch hier zeigt die Realität (s. Donne Women in Music 2018), dass die führenden Orchester und Konzerthäuser durchwegs nur ca. 5 Prozent Werke von Komponistinnen aufführen.
 

Konzerte und Preise

Die Konferenz war ergänzt durch Show Cases (berührend: «Duets with Jim» der niederländischen Sängerin Andrea van Beek; voller Elan: das Stegreif-Orchester Berlin), abendliche Konzerte (besonders: «Stalin’s Piano» mit Sonya Lifschitz und Robert Davidson) und Clubprogramme (u. a. ein Schweizer Act: reConvert).

Mit Innovation Awards wurden in diesem Jahr ausgezeichnet: die PRS Foundation für ihre internationale Initiative «Keychange» zur Erreichung einer 50:50-Situation in Musikinstitutionen und -festivals, Umculo, eine in Berlin ansässige Initiative für Opernproduktionen mit südafrikanischen Communities und das chilenische Kollektiv Resonancia Femenina.

Die nächste Classical:NEXT findet vom 13. bis 16. Mai 2020 statt.
 

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