Auf Coimbras Spuren

Der Pianist und Autor Yorck Kronenberg auf den Spuren eines Sonderlings aus den Tropen, José Diego Coimbra.

Auch auf fernen Inseln ist früher im Stil der europäischen Klassik komponiert worden. Das Riemann-Musiklexikon erwähnt zum Beispiel den 1870 in München geborenen Komponisten Otto Jägermeier, der 1915 aus dem kriegsgeplagten Europa nach Madagaskar auswanderte und dort sinfonische Dichtungen wie Im Urwald oder die Suite tananarivienne, benannt nach der madagassischen Hauptstadt Tananarive, schrieb. Und neuerdings ist auch die Rede von einem anderen Inselbewohner, der weitab von unserer Zivilisation seine Partituren schrieb. Er hörte auf den portugiesisch-spanischen Namen José Diego Coimbra und lebte, wie es heisst, von 1824 bis 1865 auf der Insel Mondariz, einer kleinen Vulkaninsel im Südatlantik, per Postschiff fünf Tagesreisen vom südamerikanischen Festland entfernt.

Coimbra ist eine Erscheinung, die neugierig macht. Ein Exzentriker, von dem man wohl kaum je gehört hätte, wenn er nicht zur geisterhaften Hauptperson eines Romans gemacht worden wäre. Autor ist der 1973 im schwäbischen Reutlingen geborene Yorck Kronenberg, der mit Mondariz nun seinen fünften Roman vorgelegt hat. Als Schriftsteller und Konzertpianist ist er eine Doppelbegabung. Damit ist er wie kein zweiter in der Lage, sowohl eine spannende Geschichte um den längst verstorbenen Komponisten zu erzählen, als auch sich musikalisch kompetent zu äussern. Die Partituren befanden sich, folgt man Kronenberg, lange im Hauptort der Insel, einer verschlafenen Siedlung aus der Kolonialzeit, wo die Einwohner die Erinnerung an den exotischen Tonsetzer mehr schlecht als recht wachhalten. In der Hoffnung auf einen irgendwann einmal einsetzenden Touristenstrom haben sie sein Wohnhaus, die Casa Coimbra, als kleine Gedenkstätte eingerichtet und es damit vor dem schleichenden Zerfall bewahrt.

Zwischen Hyperrealismus und Fiktion

Kronenbergs Buch bietet dem Leser eine schlitzohrige Mischung von hyperrealistischer Beschreibung und Fiktion. Der Icherzähler, hinter dem man den Autor selbst vermuten darf, war vor zehn Jahren schon einmal auf der Insel, um den Spuren des Komponisten nachzuforschen. Jetzt ist er zum zweiten Mal gekommen, um sich die Partituren und die in alten Truhen verstauten Dokumente genauer anzuschauen und Coimbras Lebensumfeld biografisch aufzuarbeiten. Er steigt in das Dorfleben und die Kolonialgeschichte der Insel ein, doch bei seinen Recherchen macht er gemischte Erfahrungen mit den misstrauischen Einheimischen. Während er versucht, in der ihm fremden Welt Boden unter den Füssen zu bekommen, holt ihn zudem seine europäische Vergangenheit in Form von SMS-Nachrichten seiner ehemaligen Lebensgefährtin ein. Beim ersten Besuch auf der Insel hatte sie ihn begleitet, nun befinden sich die beiden über Tausende von Kilometern hinweg in einem schmerzhaften Trennungsprozess. Diese beiden Ebenen werden in der Erzählung gekonnt ineinander verschachtelt.

Allen praktischen Unzulänglichkeiten und dem Liebeskummer zum Trotz nehmen die Gestalt des Komponisten und seine Musik schrittweise Kontur an. Als der Erzähler am Schluss die Insel mit einem Frachtkahn wieder verlässt, ist er um einige Erfahrungen reicher. Mit dem Eintauchen in das Fremde tauchte er zugleich in sein Inneres ein. Er weiss jetzt, dass ihm die Welt der Inselbewohner immer verschlossen bleiben wird, zu seiner Exfreundin im fernen Europa hat er Distanz bekommen, und die mit der undurchschaubaren Inselwirklichkeit verwachsene Musik Coimbras ist ihm vertrauter geworden. Einige Partituren nimmt er als Trophäen mit nach Hause.
Und hier befinden sie sich nun in den Händen des Autors und Pianisten Yorck Kronenberg. In seinem Buch hat er sie kenntnisreich beschrieben, zum Beispiel die grosse Sinfonie in cis-Moll, ein Spätwerk von 1862, in welcher der Dirigent die Musiker auffordern kann, das Spielen nur zu fingieren, so dass die Bewegungen zwar weitergehen, aber kein Ton erklingt. Coimbra nimmt hier die Experimente des instrumentalen Theaters voraus, die hundert Jahre nach ihm Avantgardisten wie Dieter Schnebel wieder aufgreifen sollten.

Entdeckungsreise nach Boswil

In einer musikalisch-literarischen Sonntagssoiree im Künstlerhaus Boswil am 30. August 2020 konnte man sich nun von der bisher nur literarischen Existenz Coimbras und seiner Musik einen konkreten Eindruck verschaffen. Kronenberg und das Casal-Quartett interpretierten zwei Werke des Komponisten, dazwischen las der Autor einige Passagen aus seinem Buch vor. Christine Egerszegi, Beiratspräsidentin der Boswiler Stiftung, unterhielt sich mit ihm und leitete durch das Programm.

Kronenberg ist ein Vorleser und Gesprächspartner, dem man gerne zuhört. Als Pianist geht er voll ins Risiko. Das zeigte sich besonders bei Bachs Klavierkonzert in d-Moll. Es erklang in einer Fassung mit Streichquartett zum Abschluss des Abends. In fulminantem Tempo und technisch bestens gerüstet jagte er durch die Ecksätze, das reaktionsschnell hinterherhechelnde Quartett immer dicht auf den Fersen. Eine Probe mehr hätte dem Ganzen gutgetan. Im Mittelsatz konnte der Pianist dann auch seine introvertierte Seite vorteilhaft herausstellen.

Kernpunkt des Konzerts und der Publikumsneugierde waren aber natürlich die beiden Originalwerke des geheimnisumwitterten Komponisten. Zu Beginn spielte Kronenberg Dos Estudios para Piano. Die erste Etüde trumpft mit motorischer Akkordrepetition in der linken und weit ausholender, einstimmiger Melodik in der rechten Hand auf. Die zweite ist freier in der Bewegung und harmonisch farbiger. Beides klingt wie eine unschuldige Vorwegnahme der Rhythmusstücke von Prokofjew oder Bartók. Das darauffolgende Streichquartett war eine Uraufführung. Das viersätzige Werk ist von einer warmen Emotionalität durchdrungen, ein nachdenklicher Ton herrscht vor. Ein gleichförmiges, polyfon geschichtetes Stimmengeflecht prägt den ersten Satz. Im zweiten treten einzelne ausdrucksstarke Figurationen hervor, die dann im langen Schlusssatz mit absteigenden Linien und abgerissenen kleinen Glissandi einen konkreten Charakter in Form von Klagelauten annehmen. Es scheint, als hätte hier Coimbra den Liebesschmerz seines späteren Biografen vorausgeahnt.

Was ist von den musikalischen Hervorbringungen dieses Einzelgängers zu halten, der auf einer gottvergessenen Tropeninsel im Südatlantik unverdrossen seine Partituren schrieb, im Bewusstsein, dass er sie zu Lebzeiten wohl nie zu Gehör bekommen würde? Wer Kronenbergs Roman liest, wird Schritt um Schritt in diese unwahrscheinliche Situation hineingezogen. Man beginnt an die Existenz Coimbras zu glauben, hinter der Fiktion wird eine neue, starke Realität sichtbar. Der Höreindruck seiner Kompositionen bestätigt jedoch die Versprechungen von Einzigartigkeit, die das Buch macht, nur bedingt. Die Fiktion bleibt in diesem Fall stärker. Trotzdem: Die Entdeckung der musikalisch-literarischen Welt von Mondariz war eine Reise nach Boswil wert.

PS: Der Komponist Otto Jägermeier ist ein musikwissenschaftlich-lexigrafischer Scherz. Die Insel Mondariz ist auf keiner Karte zu finden.
Yorck Kronenberg: Mondariz. Dörlemann Verlag, Zürich 2020, 283 Seiten

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