Ein Riesenrohr als Fingerzeig

Das Musikpodium holt die Produktion «Rohrwerk» des Studio-Klangraums nach Zürich und markiert damit unübersehbar, wo die Musik spielt.

Musik ist eine Zeitkunst – oder wird zumindest gemeinhin als solche betrachtet. Häufig geht dabei jedoch vergessen, dass sie sich nicht nur in der Zeit entwickelt, sondern auch Raum benötigt, um sich auszubreiten. Gestalteter Raum hingegen ist die Domäne der Architektur; eines Metiers, das sich bei seiner den Alltag prägenden Routine seltsam indifferent, ja taub gegenüber der Sphäre des Klangs gebiert.

Musik und Architektur — diese beiden sich fremden Schwestern einander anzunähern ist das Ziel des Komponisten und Studio-Klangraum-Mitbegründers Beat Gysin. Und mit dem Projekt Rohrwerk. Fabrique sonore geschieht das auf denkbar spektakuläre Weise. Ein 45 Meter hohes Stoffrohr wird von einem Kran in den Kreuzgang des Grossmünsters gehalten. Die «Pfeilspitze» dieses Rohres zielt nach unten, das futuristisch anmutende Ungetüm scheint auf einer Fläche von wenigen Quadratzentimetern zu stehen. In die mit wellenförmigen Ausfräsungen versehene Spitze sind noch nie gesehene Perkussions- und Blasinstrumente eingebaut: überlange Röhrenglocken, ein mit einer Posaune verbundenes Horn, ein Klangrohr mit der längsten Feder der Schweiz als Impulsgeber, Rohre, die als Lautsprecher dienen, aber auch eine Feedbackschlaufe erzeugen können …

Gigantische Teamarbeit

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Entwickelt wurden diese Klangwunder in Teamarbeit. Die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen Komponist, Musiker, Bühnenbildner, Veranstalter etc. spielte bei diesem 2019 im Rahmen des Festivals ZeitRäume Basel erstmals realisierten Projekt eine untergeordnete Rolle. Gemeinsam, am grossen Tisch, brüteten die aus allen Sparten stammenden Beteiligten ihr unförmiges Ei aus. Der Impuls für Rohrwerk kam zwar vom Studio-Klangraum, es ist eigentlich bereits die dritte Folge einer Leichtbauten genannten Reihe räumlich-musikalischer Interventionen. Doch ein derartiges Unternehmen könnte ohne die intensive Mitarbeit aller Mitstreiter, ihren Enthusiasmus und auch Irrsinn, niemals umgesetzt werden. So ist es denn auch folgerichtig, wenn in Zürich nicht nur das Riesenrohr in die Silhouette der Stadt gestellt und mit der eigens dafür komponierten Musik bespielt wurde. Über das ganze Wochenende vom 25. bis 27. Juni verteilt konnte man Workshops mit den Komponisten oder Führungen mit dem Bühnenbauer Peter Affentranger und dem Architekten Patrick Heiz besuchen. Das eröffnete einem nicht nur ungewohnte Einblicke und Einsichten, sondern war schlicht auch schön. Etwa wenn die beiden Perkussionistinnen Anne Briset und Jeanne Larrouturou nicht ohne Stolz das von ihnen mitentwickelte Arsenal an klanglichen Wundertüren vorführten.

Für Rohrwerk wurde in Zürich also kein Aufwand gescheut. Da das Institute for Computer Music and Sound Technology (ICST) der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) als Co-Produzent beteiligt war, erstaunt das nicht wirklich. Dennoch backt das Musikpodium der Stadt Zürich für gewöhnlich wesentlich kleinere Brötchen. Die Vermutung liegt nah, das Musikpodium wolle gegenüber dem neuen Festival Sonic Matter, dem Nachfolgeprojekt der Tage für Neue Musik, Präsenz markieren und deshalb mit der Riesenkelle anrühren. Doch Heinrich Mätzener, der künstlerische Leiter des Musikpodiums, wischt solche Überlegungen sofort vom Tisch. Die beiden Veranstaltungen seien völlig unabhängig voneinander. Er und René Karlen, der damalige Leiter der Abteilung E-Musik der Stadt, seien sich einfach sofort einig gewesen, das einmalige Projekt zu unterstützen. Das war vor über zwei Jahren gewesen, als Sonic Matter und Covid noch kein Thema waren. Und nur wegen letzterem sei Rohrwerk erst jetzt nach Zürich gekommen.

Das Unbehagen der Musik im Raum

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Aber mal alle Superlative der Höhe, Breite und Länge beiseitegeschoben: Überzeugt das Riesenrohr auch musikalisch? Es gab drei Konzerte, jenes am Samstag mit Kompositionen von Emilio Guim, Beat Gysin und den beiden ICST Musikern Germán Toro Pérez und Nicolas Buzzi. Und ja, die Konzerte bereiteten Freude. Der Innenhof des Kreuzgangs wurde mit einer statischen Musik geflutet, wie sie in dem ehrwürdigen Gemäuer wohl noch nie zu hören gewesen war. Obertonspektren wurden aufgefächert, Klangflächen aufgebaut und wieder abgerissen. Auf Anhieb war nie ganz ersichtlich, ob die Klänge nun analog oder elektronisch produziert respektive reproduziert wurden. Es lohnte sich auf jeden Fall, aufmerksam hinzuschauen, wer auf der Bühne woran hantierte. Und obwohl alle Komponisten obertonorientiert arbeiteten, also alle Stücke derselben Klangwelt entstammten, kam kein Gefühl der Gleichförmigkeit auf. Kritisieren kann man jedoch, dass man sich alle Stücke auch ohne die ganze Riesenkonstruktion vorstellen könnte. Es wäre kein Problem, all die abgefahrenen Instrumente ohne musikalische Einbussen an übergrosse Ikea-Kleiderständer zu hängen. Der Bezug zwischen der Konstruktion und der Musik war zu wenig erkennbar.

Doch ist vielleicht gerade dies das Interessanteste an Rohrwerk. Die Diskrepanz zwischen architektonischem Aufwand und musikalischer Notwendigkeit lässt das Problem des Raumes in der Musik überdeutlich hervortreten. Die Aufgabe, welche das Genfer Architektenteam Made in zu Beginn des Projekts erhalten hatte, kann man mit «Raum aus klingenden Rohren» zusammenfassen. Was es aber ablieferte, war kein begehbarer Klangkörper, sondern ein riesenhaftes Symbol, auf das die Musik zu reagieren hatte. Damit lenkten François Charbonnet und Patrick Heiz den Blick auf ein grundlegendes Problem, das Verhältnis von Raum und Musik. Die Räume, in denen Musik stattfindet, sind heute derart genormt, also selbstverständlich, dass sie überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Musik als Raumkunst zu verstehen, heisst also zuallererst, sie von den für sie errichteten Musentempeln zu befreien. Wie ein übergrosser Finger weist Rohrwerk auf diesen blinden Fleck des Klassikbetriebs hin.

Weitere Aufführungen an der École polytechnique fédérale de Lausanne vom 21. bis 23. September.
Trailer Rohrwerk.Fabrique sonore Basel 2019 (YouTube)

 

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