«Die Uhr schlägt langsam sieben» – Roland Mosers «Europäerin»
Das Musiktheater «Die Europäerin» von Roland Moser basiert auf einem Mikrogramm Robert Walsers und erklang nun beim Festival Rümlingen im Appenzellischen.

Ein Blatt von der Grösse 17.5 x 8 cm, also nicht mal ein Drittel des Formats dieser Zeitung, eng beschrieben in winziger, scheinbar unlesbarer Schrift. Es enthält jedoch: zwei nicht allzu kurze Gedichte, einen längeren Essay über Kleist als Dramatiker und ein Dramolett mit dem Titel Die Europäerin. Geschrieben wurde dieses Mikrogramm, das vom Nachlassverwalter die Nr. 400 erhielt, wohl im September 1927 von Robert Walser. Auch wenn sich in den Gedichten ein paar Stellen aus den anderen Texten finden, fragt man sich, was die vier Niederschriften in drei verschiedenen Textgattungen denn verbindet und warum sie auf diesem Blatt so gedrängt zusammenfanden. Einem spielerisch-plausiblen Lösungsvorschlag dieses Rätsels konnte man am 18. September im Rösslisaal zu Trogen beiwohnen. Zum zweiten und dritten Mal aufgeführt wurde dort das neue Musiktheater von Roland Moser, das erstmals einen Monat zuvor in Cernier erklungen war und nun erneut im Rahmen des Festivals Neue Musik Rümlingen.
Das basellandschaftliche Festival, das für Experiment und Freiluftanlässe steht, hatte Walsers wegen ins Appenzellische disloziert. Dessen Bürgerort war Teufen; er hatte die letzten 23 Jahre seines Lebens in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau verbracht und war 1956 bei einem Spaziergang im Schnee gestorben. Die zeitgenössische Musik, die sich – nicht nur in der Schweiz – in den letzten fünfzig Jahren mit einem Crescendo den Texten und der Figur dieses grossen Schweizer Dichters gewidmet hat, stellte ihn also neuerlich ins Zentrum.
So war denn während vier Tagen ein reichhaltiges Programm zu erleben, für das die Rümlinger Crew mit dem Musikwissenschaftler Roman Brotbeck zusammenspannte. Er hat gerade ein dickes Buch über Robert Walser und die Musik abgeschlossen, und diesem Thema widmete sich nun in Herisau auch die Robert-Walser-Gesellschaft in ihrem Symposium. Weite Klangspaziergänge boten sich in einer Landschaft an, durch die Walser selber einst mit Carl Seelig gewandert war, wobei man weniger für ein Bier als für Musik einkehrte, in Scheunen oder Waldlichtungen oder Dörfern. Einige gelungene Stücke und Performances waren dabei zu erleben, so von Brigitta Muntendorf, Sylwia Zytynska, Stephan Froleyks, Paul Giger/Andres Bosshard. Aber es zeigte sich selbst bei den gelungenen Beispielen, wie schwierig es ist, den walserschen Charakter, diese schräge, mit Heiterkeit und Verspieltheit gemischte Traurigkeit und Abgründigkeit, zu treffen. Am schönsten gelang dies wohl der Performance Es cho + es go, für die Gisa Frank und Urban Mäder mit Bläsern und Akteurinnen, grossenteils Laien aus dem Dorf Rehetobel, zusammenarbeiteten und eine wundersam skurrile Darbietung kreierten.
Dem unfassbaren Dichter nähergekommen
Ausserdem gab’s vier musiktheatralische Ereignisse: Patient Nr. 3561 des Kollektivs Mycelium, basierend auf Walsers Krankenakte; eine neue Version von Georges Aperghis’ Zeugen (mit den Handpuppen von Paul Klee); den etwas unschlüssigen Tobold von Anda Kryeziu und mittendrin eben Mosers Europäerin. Ihm gelang eine im Geist walsersche Produktion, weil er eben nicht zuviel draufstülpen wollte. Moser nahm gleichsam das Mikrogramm-Blatt als Einheit und entfaltete es.
-
Aufführung von Roland Mosers «Die Europäerin» im Trogener Rösslisaal v.l. Jürg Kienberger, Leila Pfister, Roland Moser, Helena Winkelman, Niklaus Kost, Conrad Steinmann
Moser (am 17. September zusammen mit Conrad Steinmann und weiteren Musikerinnen und Musikern in Lugano mit einem Schweizer Musikpreis ausgezeichnet) hat in seinem Musiktheaterschaffen schon mehrmals mit merkwürdigen Textgattungen, etwa mit Briefen, gearbeitet. Er versteht sie als Anregungen, unterschiedliche Sprech-, Deklamations- und Singweisen einander entgegenzusetzen. Leila Pfister (Mezzosopran) als Europäerin und Niklaus Kost (Bariton) als ihr Freund lieferten sich ein hintersinniges Vokalduett, das von Jürg Kienberger (sprechend) kommentiert wurde; er trug auch den Kleist-Essay vor. Die Dramatik wurde so eher zurückgenommen, die Emotionalität untergraben, und doch blieb die Emphase, verknüpft seltsamerweise mit Zurückhaltung, gewahrt. Flexible Melodik und stockend gleichmässige Rhythmik scheinen kurzerhand zu wechseln. Identifizieren konnte man sich so kaum mit einer der Figuren, alles war im Widerspruch. Wesentlich aber war, dass mit der Bratsche von Helena Winkelman und den Blockflöten (inklusive Okarina) von Conrad Steinmann zwei weitere wortlos, aber höchst ausdrücklich deklamierende Personen hinzukamen. Ingrid Erb hatte dies alles diskret und ohne viel Aufwand inszeniert. Und so fühlte man sich hier diesem seltsamen Dichter auf ungreifbare Weise näher. Wie es ja auch am Schluss des einen Gedichts heisst. «Die Uhr schlägt langsam sieben, / und ihm ist alles völlig unfassbar geblieben.»
«Die Europäerin» – Uraufführung am 21. August in Cernier. Besuchte Vorstellung am 18. September in Trogen. Weitere Aufführungen am 29./30. Januar 2022 in der Gare du Nord Basel.
Festival Neue Musik Rümlingen, 15. bis 19. Sept. 2021. Eine Auswahl der Rümlinger Stücke ist am 19. November in der Alten Kirche Rümlingen zu hören.
Roman Brotbecks Buch Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2022 erscheint im Herbst im Wilhelm-Fink-Verlag Paderborn.