Menschsein als unerreichter Zustand

Die chinesisch-amerikanische Komponistin Du Yun ist am Luzerner Theater zu Gast und feierte am 27. Oktober eine Mehrfach-Premiere.

Die Menschheit verfügt zurzeit nicht über den besten Leumund. Zerstörung des Planeten in der Gegenwart, Krieg und Gewalt in der Vergangenheit. Dennoch sehnen sich die Protagonisten von Du Yuns Kammeropern A Cockroach’s Tarantella und Zolle genau danach: Menschsein. Damit stellt sich die in Shanghai geborene und in New York lebende Komponistin gegen den Zeitgeist. Der Mensch figuriert nicht als Bedrohung, sondern als Utopie. Ob es allerdings schmeichelhaft ist, das Ziel der Sehnsüchte und Träume von Kakerlaken und Geistern zu sein, sei dahingestellt.

Entstanden ist Zolle (ital. Erdklumpen/-schollen) 2004 in Harvard als Doktorarbeit. Seither hat Du Yun eine beeindruckende Karriere hingelegt, die sie und ihre Werke um den gesamten Erdball geführt haben. Ihre die unterschiedlichsten Stile mischende Musik ist derart erfolgreich, dass ihr 2017 gar der Pulitzer Prize of Music verliehen wurde. Es ist nun spannend, das frühe Stück als europäische Erstaufführung erleben zu können. Und erst noch zum ersten Mal gemeinsam mit dem kurz darauf als mögliches Vorspiel dazu konzipierten A Cockroach’s Tarantella.

Oper ohne Gesang

Zusammengehalten werden die beiden Werke durch Blut und Tränen. Zwei Flüssigkeiten, die das Menschsein offenbar ausmachen. Zumindest für Oudfy, der Kakerlake, einer Sprechrolle, die Yun bei der Aufführung am Luzerner Theater selber verkörpert. Wie Robocop steht sie auf der Bühne, mit einem während der knapp 20-minütigen Vorstellung unaufhörlich anwachsenden Bauch. Es ist die fünfte Schwangerschaft dieses Jahr und sie hat genug davon, in ständiger Erwartung zu sein. Denn seit der einmaligen Kopulation als ganz junge Nymphe ist sie dies eigentlich immer. Sie träumt davon, als Mensch aus Liebe schwanger zu werden und über den Tod ihrer Kinder trauern zu können, weinen zu können. Bei der letzten Geburt war ihr Blut rot statt wie üblich gelb, und sie deutet dies nun als Zeichen, bei der nächsten Wiedergeburt als Mensch auf die Welt zu kommen.

Der um sie selbst kreisende Monolog Oudfys wird von der Ich-Erzählerin vorgetragen, begleitet lediglich von einem Streichquartett. Ein enges, intimes Setting, das Oudfys Einsamkeit betont und ihren Wunsch nach menschlicher Gemeinsamkeit dadurch bestärkt. Dazu passt eine Musik, die vom Kontrast zwischen modernen und stark romantisierenden Klängen lebt und so ihrerseits den zwischen Groteske und ehrlicher Verzweiflung changierenden Text unterstreicht. Doch trotz dieser Bemühungen berührt einen das Schicksal der dagegen aufbegehrenden Kakerlake nur begrenzt. Das mag mit der Dominanz des Textes zu tun haben, der schlechter gealtert ist als die noch frisch wirkende Musik. Vielleicht liegt es aber auch an unseren Rezeptionsgewohnheiten. Eine Oper, in der nicht gesungen wird, ist für uns schwer verständlich, werden doch gerade in den Arien die Gefühle ausgedrückt. In der chinesischen Operntradition jedoch seien die Arien Gedichte, wie Du Yun beschreibt. Eine gewisse Fremdheit zwischen der Komponistin und ihrem Schweizer Publikum bleibt.

Image
Du Yun, Misaki Morino und Anna Bineta Diouf in «Zolle», Regie Roscha A. Säidow
Im Hintergrund ein Ensemble des Luzerner Sinfonierorchesters unter der Leitung von Alexander Sinan Binder

Wilder stimmiger Stilmix

Das passt zum gesamten Abend, denn «Fremdheit» ist das grosse Thema von Zolle. Ein Geist kehrt in sein Heimatdorf zurück und stellt fest, dass er dort mittlerweile genauso fremd ist wie in der Geisterwelt. Er, oder besser sie, rekapituliert ihr früheres Leben, das bestimmt war vom langen Stammbaum der Ahnen, deren Blut durch ihre Adern floss. Seit sie als Achtjährige am Grab der ihr eigentlich unbekannten Grosseltern in Tränen ausbrach, konnte sie es kaum erwarten, dass ihr Name auf diese lange Papierrolle geschrieben würde. Doch nun wird sie von ihrer Familie nicht mehr erkannt, ist ihr die Heimatscholle fremd geworden.

Verkörpert wird dieser Geist wiederum von Yun als Sprecherin, zusätzlich aber noch von der Sopranistin Misaki Morino und der Mezzosopranistin Anna Bineta Diouf. Die Dreiteilung der Protagonistin ist eine Idee der Regisseurin Roscha A. Säidow, die damit die von Yun vorgesehene Sopranrolle nochmals aufspaltet. In Zolle wird also richtig gesungen, auch wenn der Text bloss Pseudoitalienisch ist. Dadurch wird das Stück vielschichtiger als A Cockroach’s Tarantella, greifbarer. Auch das siebenköpfige Kammerorchester unter der Leitung von Alexander Sinan Binder klingt viel voller, wohl auch wegen des zum Teil ungewohnten Instrumentariums inklusive Plastik-Kazoo und Elektronik. Im wilden, aber stets stimmigen Stilmix fallen dann vor allem die historisierenden Passagen auf, die pseudoitalienischen Arien, das barockisierende Madrigal. Denn es sind diese unseren Ohren eigentlich vertrauten Klänge, die in der musikalischen Landschaft fremd wirken und die Melancholie der verlorenen Seele in musikalische Nostalgie übersetzen.

Am überzeugendsten wirkt Zolle zum Ende hin, wenn sich der Geist, der sich zwischen Dies- und Jenseits nicht entscheiden kann, in den titelgebenden Erdklumpen verwandelt. Eine Metamorphose, die sich in einer berückenden Musik vollzieht, sphärisch beinah, ohne gross erklärenden Text zu benötigen. Und da jetzt auch Säidows Inszenierung zur Hochform aufläuft, den Vorgang verständlich illustriert und doch immer stimmungsvoll auf der Höhe der Musik bleibt, wird man zum Schluss noch richtig in diese Geschichte hineingezogen. Oder ist uns Du Yuns Kunst hier einfach am wenigsten fremd?

Weitere Daten: 5.11. / 12.11. / 13.11. / 18.11.

Das könnte Sie auch interessieren