O Herr, schläfst Du?

«Musik in finsteren Zeiten 1914–1943»: Selten sind Konzerte mit klassischer Musik derart aktuell wie das neueste Programm des Männerchors Zürich.

Beinahe aufreizend lange liess Chorleiter Roger Widmer die letzten Töne verklingen, liess die Hände nur langsam, nacheinander nach unten sinken und erzwang so Stille. Oder besser, er verhinderte damit, dass der verdiente Applaus den tiefen Eindruck sofort wegwischte, den Bohuslav Martinůs Feldmesse am Ende eines mutigen und leider unheimlich aktuellen Programms hervorgerufen hatte.

Anklage und Angst

Mutig war das Programm gleich in mehrfacher Hinsicht. Es sind keine einfachen Stücke, die sich der Männerchor Zürich gemeinsam mit der Stadtharmonie Oerlikon-Seebach vorgenommen hat. Sie zählen zwar nicht zu den technisch avanciertesten Kompositionen der auch musikalisch unruhigen 30 Jahre zwischen 1914 und 1943, dennoch ist in ihnen die stürmische Entwicklung der Musiksprache dieser Zeit spürbar. Besonders die gehäuften Dissonanzen, die im Rahmen der gemeinsamen Thematik durchaus mit Schmerz assoziiert werden können, stellten den Chor vor einige Herausforderungen. Am deutlichsten erkennbar war dies in Kurt Weills Berliner Requiem von 1928 nach Texten Bertolt Brechts. Doch trotz einiger Unsicherheiten schafften es Chor und Ensemble, die Anklage gegen Kriegstreiber, wie man das Werk zusammenfassend nennen könnte, eindringlich darzustellen.

Ihren Anteil daran hatten selbstverständlich die beiden Solisten Matthias Aeberhard und Robert Koller, der kurzfristig für Marc Olivier Oetterli eingesprungen war. Besonders der Tenor Aeberhard verlieh der zynischen Ballade Marterl den vokalen Schmelz, der dem Stück in Verbindung mit dem lakonischen Bericht begangener Grausamkeiten erst die so abstossende Wirkung verlieh.

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Robert Koller

Das Berliner Requiem ist ein Werk, das mittels sprachlicher und musikalischer Drastik aufrütteln, etwas bewirken will. Damit stand es in diesem Konzert trotz vielleicht unterschiedlicher kompositorischer Mittel nicht alleine da, im Gegenteil. Alle Werke berichteten von den Versehrungen, die Gewalt anrichtet, und stellten damit auch das Publikum vor nicht zu unterschätzende Herausforderungen. Da schien keine Sonne nach dem Regen, kein Wintersturm wich dem Wonnemond. Doch das klug zusammengestellte Programm liess einen dennoch nicht in der Dunkelheit verzweifeln, sondern gestattete einem zumindest einige Lichtblicke.

So schillert Gustav Holsts zu Beginn gesungenes A Dirge for Two Veterans (Ein Klagelied für zwei Veteranen) gespenstisch zwischen Trauer und dem Pomp einer feierlichen Prozession. Damit spiegelt das 1914 entstandene Werk präzise die zu Beginn des Ersten Weltkriegs herrschende Mischung aus naiver Kriegsbegeisterung und berechtigter Angst. Und Benjamin Brittens 1943 komponierte Ballad of Little Musgrave and Lady Barnard endet nach Lord Barnards Mord an seiner Frau und deren Liebhaber eben nicht mit Klängen des Schreckens, sondern in den lichten Tönen der Erkenntnis des Lords, dessen sich beruhigender Puls ihm die Einsicht ermöglicht, ein Unrecht begangen zu haben. Nur Samuel Barbers A Stopwatch and an Ordnance Map (Eine Stoppuhr und eine Generalstabskarte, 1940) verharrt in stiller, unendlicher Trauer über den Verlust des Kameraden.

Traurige Aktualität

Mutig war auch der Termin des Konzertes, 12. März in der Tonhalle Zürich. Gerade für Chöre ist die Auftrittsplanung trotz gelockerter Corona-Massnahmen noch immer ein Wagnis. Und als das Datum festgelegt wurde, waren die Signale in Richtung Öffnung noch nicht eindeutig. Noch weniger konnte man damals ahnen, wie nah uns die Kriegsthematik dieses Programmes dann gerückt sein würde. Was vielleicht als Rückblick geplant war auf schwierige Zeiten, als Hinweis darauf, dass es schlimmeres als Corona-Massnahmen gibt, wurde so unversehens zum Kommentar zu den Ereignissen im Hier und Heute, 1500 Kilometer von Zürich entfernt.

Es ist schon verflixt: Man erhofft sich eigentlich immer, dass ein Konzert mehr als die blosse Wiedergabe von Klängen sein möge. Dass irgendwie eine Brücke geschlagen werde zwischen der Musik und unserem Leben. Und wenn es dann geschieht, mag man sich doch nicht so recht darüber freuen. Zumindest an diesem Abend, bei dieser Thematik. Doch am Ende behielt zum Glück die Musik das letzte Wort.

Zum einen, weil Martinůs Feldmesse ein Werk ist, das man gehört haben muss. Unbändig im Zorn und stark selbst dann, wenn wehmütig zurückgeblickt wird. Ein Furor, der in der anklagenden Frage «O Herr, schläfst Du?» gipfelt und danach dennoch zu trostvoller Zuversicht findet.

Zum andern, weil hier alle Beteiligten zur Höchstform aufliefen. Der Chor strahlte die Sicherheit aus, die bei Weill noch stellenweise gefehlt hatte, das Ensemble unter der klanglichen Führung von Andreas Gohl-Alvera am Klavier und Mark Richli am Harmonium kommentierte aufmerksam und scharf. Und der Bariton Robert Koller bewies, dass er nicht nur singen kann, sondern auch über ein ausgeprägtes schauspielerisches Talent verfügt. Das sichtlich bewegte Publikum hätte Roger Widmers gekonnte Applausverzögerung wahrscheinlich gar nicht benötigt – es hätte vor dem Klatschen wohl auch so erst einmal tief durchatmen müssen.

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