Die Opfer von heute

Rund 80 Jugendliche verwandeln Strawinskys Ballett «Le Sacre du Printemps» in eine Anklage gegen Krieg und Flüchtlingselend.

Eine Jungfrau tanzt sich während eines Opferrituals zu Tode, auf dass im Herbst eine fette Ernte eingefahren werden möge. Der pseudo-archaische Stoff des Balletts Le Sacre du Printemps provozierte gemeinsam mit Vaslav Nijinskys bewusst primitiver Choreografie einen der berüchtigtsten Skandale der Musikgeschichte und machte den Komponisten Igor Strawinsky auf einen Schlag weltberühmt. Ein Stoff jedoch, der heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor- und vor allem keine Jugendlichen auf die Tanzbühne lockt. Krieg, Klima und Flüchtlinge sind die Themen, die bewegen.

Zumindest lässt einen das Musikkollegium Winterthur zu diesem Schluss kommen. Im Rahmen von «Le Grand Rituel», einem Festival, das vom 4. bis 18. Juni die Zwanziger- und Dreissigerjahre wiederaufleben lässt, bringt es gemeinsam mit dem Iberacademy Orchestra Medellín und rund 80 Jugendlichen eben diesen Sacre auf die Bühne. Die Schüler aus Wetzikon, Zürich und Winterthur sollten mit diesem Projekt, für das sie ein Jahr lang geprobt haben, an die klassische Musik herangeführt werden – und nur wenige Stücke im Repertoire eignen sich dafür so wie der Sacre. Denn wenn die Phase nach dem Ersten Weltkrieg, die Zeit, die «Le Grand Rituel» feiert, eine des künstlerischen Aufbruchs in die Moderne war, so kann man den bereits 1913 entstandenen Sacre als eine Art Startschuss zu dieser Entwicklung betrachten. Noch immer klingt diese die Extreme abtastende Musik frischer, moderner als vieles, das später geschrieben wurde.

Diskrepanz zwischen Botschaft und Stimmung

Im Sacre 2022, wie der Choreograf Josef Eder das Community-Dance-Projekt nennt, wurden die einzelnen Teile denn auch umbenannt, mit aktuellen Themen bezeichnet: Keim, Erwachen im Hier und Jetzt – Anklage und Selbstermächtigung – Initiation – Kräftemessen … Doch eigentlich benötigte man die Titel nicht, um zu verstehen, worum es geht. Denn schon vor der eigentlichen Vorstellung vom 10. Juni im Foyer der Halle 53 der ehemaligen Giesserei im Sulzerareal machte der Prolog alles klar. Während das Publikum noch gemütlich am Bierchen nippte, mischten sich zerlumpte Gestalten mit dreckverschmiertem Gesicht paarweise unters Volk, begleitet von einem Instrumentalisten der Iberacademy, und präsentierten die Lebensrealität von Flüchtlingen respektive Flüchtlingskindern. Nur tropfenweise verabreichten sie einander das lebenswichtige Wasser oder kreischten herzzerreissend. Und bereits hier oder überdeutlich hier wurde einem auch das den äusseren Umständen geschuldete Problem des Abends bewusst. Denn das Publikum, das vorwiegend aus Familien und Freunden der Protagonisten bestand, liess sich durch die Dringlichkeit der Message keineswegs von der guten Stimmung und dem Cüpli ablenken und betrachtete sichtlich mit Wohlgefallen das Treiben der Sprösslinge. Vor lauter Konzentration auf die Boten geriet die Botschaft gänzlich in den Hintergrund.

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Krieg, das übergrosse Ritual

Das war schade, denn die Botschaft wurde mit erheblichem Aufwand und durchaus auch gekonnten Kunstgriffen aufbereitet. So vereinigten sich die zerlumpten Gestalten gegen Ende des Prologs und skandierten Parolen – «Panzer rollen, Kinder sterben» – rhythmisch akzentuiert und mit ebensolchen Schwerpunktverschiebungen, wie sie für Strawinskys Musik typisch sind. Die eigentliche Choreografie ersetzte geschickt das Opferritual durch Massenszenen und liess so den Krieg als das erscheinen, was er ist: ein übergrosses Ritual, in dem eben nicht einzelne Jungfrauen, sondern ganze Menschenmassen auf den Altar geführt werden. Und ein einfaches, von der Decke herabhängendes Netz wurde zum Symbol für unüberwindbare Grenzen und unlösbare Verstrickungen.

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Überzeugend war der Abend aber auch dank der Leistung der beiden Orchester. Die Iberacademy, ein Orchester, das lateinamerikanische Jugendliche an die Musik heranführt und auf den Musikerberuf vorbereitet, entwickelte gemeinsam mit dem Musikkollegium unter der Leitung von Roberto González-Monjas den nötigen Druck, um die jugendlichen Tänzerinnen und Tänzer durch den Abend zu tragen. Das zeigte sich bereits beim als Eröffnung gespielten, perfekt in die Umgebung passenden Stück Die Eisengiesserei von Alexander Mossolow. Man hat es vielleicht schon differenzierter gehört, was sicher auch der Akustik der Industriehalle geschuldet war, aber die wilde Wucht des Momentes liess einen solche Einwände sofort vergessen. Der überbordende Schlussapplaus war dann zwar voreingenommen, aber sicher nicht unverdient. Bleibt für die Vorstellung am Tag danach und die Abschlussgala am 18. Juni einzig zu hoffen, dass ein etwas neutraleres Publikum auch die Botschaft zu würdigen weiss.

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