Vom Glauben an eine andere Welt

Zur 10. Sinfonie Dmitri Schostakowitschs schuf der südafrikanische Künstler William Kentridge einen eindrücklichen Film.

Trotz mancher Krisen im Musikbetrieb: Seit einigen Jahrzehnten erlebt zumindest ein Genre ein markantes Crescendo: die Filmmusik. Dies nicht nur in der Betrachtung und Bewertung (selbst von Seiten der Musikwissenschaft und der Neuen Musik), sondern auch im Konzertsaal. Pionierarbeit hierzulande hat das 21st Century Orchestra aus Luzern geleistet, das seit 1999 unter der Leitung von Ludwig Wicki jüngere Film live begleitet. Längst sind ihnen die meisten Orchester gefolgt. Gut so. Denn diese Bewegung kompensiert, was die Kinos nicht mehr leisten, seit fast alle Cinemascope-Säle zerstückelt wurden. Das ganz grosse Erlebnis, mit weit geöffneten Augen und Ohren vom Bild und Ton umgeben zu sein, ging dabei verloren. So wird ein Genre zurückerobert.

Man kann es jedoch auch weiterdenken, wie das Luzerner Sinfonieorchester nun zeigt. Neu entstanden ist ein eigenständiger Film zu einer bildhaften und emotional intensiven Musik, die allerdings keineswegs als Filmbegleitung gedacht war, von einem Komponisten, der seinerseits reichlich Erfahrung mit dem Film gemacht hat, über Jahrzehnte hinweg in den unterschiedlichsten Genres. Der südafrikanische Künstler William Kentridge, ein Meister vieler Klassen, schuf mit seinem Team den Film Oh, to Believe in Another World zur 10. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, der schon als junger Pianist Stummfilme in Leningrad begleitete.

Gefühle und Leidenschaften

Wie soll man das bebildern? Die Zehnte, entstanden 1953 nach Stalins Tod, gilt als bitterböses Porträt des Diktators, was vor allem auf den überzeichneten zweiten Satz zutrifft. Im ersten Satz werde, so Dirigent Michael Sanderling, der Zustand der Gesellschaft geschildert; im dritten erzähle der Komponist von sich selber. Man mag in der tragischen Schönheit des Werks auch Hoffnung erkennen. Bezüglich eines konkreten Inhalts hielt sich Schostakowitsch selber eher bedeckt: «In diesem Werk wollte ich menschliche Gefühle und Leidenschaften wiedergeben.»

Man könnte sich das nun recht plakativ vorstellen – oder aber untermalt von alten Dokumentaraufnahmen. Ausgangspunkt für Kentridge war jedoch keine Handlung, sondern vielmehr das Spiel mit kleinen Pappfiguren, die in einem «verlassenen sowjetischen Museum» agieren, das freilich nur in einem Kartonformat existiert, wie es auf dem Ateliertisch Platz fand. Gefilmt wurde mit einer Miniaturkamera, in der Art eines Animationsfilms. Hinzu kamen Akteure, die das Figurenspiel teilweise in Lebensgrösse nachstellten: Schostakowitsch und seine Schülerin Elmira Nasirowa, den Dichter Wladimir Majakowski und seine Geliebte Lilja Brik sowie die drei Revolutionäre Lenin, Trotzki und Stalin. Aus den Aufnahmen entwickelte das Filmteam die Szenen zur Musik, die allerdings keiner wahrnehmbaren Chronologie folgen.

Aufbruch und Desillusionierung

Die 1920er-Jahre – und weniger die 50er, als die Sinfonie entstand – sind der historische Referenzpunkt für Kentridge. Und dies aus einem wichtigen Grund: Er wollte nicht jene unter Stalin herrschende Depression zeigen, sondern vielmehr die Ambivalenz der Gefühle angesichts des sozialistischen Aufbruchs in der jungen Sowjetunion und der bald darauf folgenden Desillusionierung. Emblematisch ist dafür die Figur des Dichters Wladimir Majakowski, der die Bewegung mit begeisterten, forschen Versen begleitete, dann aber 1930 enttäuscht Selbstmord beging. Aus seinen Gedichten und Dramen stellte Kentridge einen Text zusammen, der im Bild erscheint und sentenzenhaft von Hoffnung und Ernüchterung spricht. Daraus stammt auch der Titel Oh, to Believe in Another World (Ach, könnt’ ich doch an eine andere Welt glauben).

Der Film bezieht sich aber auch auf die Ästhetik der 1920er-Jahre, auf den expressiven Futurismus und auf die russischen Stummfilme jener Zeit. Mehrmals fühlt man sich an den schnell und kühn geschnittenen Film Das neue Babylon erinnert, den Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg 1929 drehten und zu dem Schostakowitsch eine fantastische Partitur schrieb. Auf diese damalige Filmqualität verweisen auch die zuweilen instabil changierenden Farben, die zerkratzten Flächen und die leicht wackelnden Bildtitel. Zwischen die Bilder sind zahlreiche Dokumentaraufnahmen eingeschoben. So entsteht ein grandioser Bilderbogen, ein kaleidoskophaftes Ballett der Figuren. Er habe die Sinfonie nicht zur Filmmusik degradieren wollen, sagt Kentridge, aber das Bild wird durch die vielen schnell wechselnden visuellen Ereignisse doch fast übermächtig. Daher ist es gut, dass die Emotionen des Bilds kaum mit jenen der Musik zu konkurrenzieren versuchen. Eine Handlung wird allenfalls angedeutet. Überzeugend etwa, dass beim zweiten Satz auf das Stalin-Porträt verzichtet wird. Zu sehen sind Propaganda-Aufnahmen der Zeit (auch mit dem jungen Schostakowitsch), die aber durch einen Bühneneffekt auf Distanz gerückt erscheinen. Kentridge sagte denn auch, er wolle mit seinem Film Fragen stellen. Problematisch ist allerdings, wie der dritte Satz visualisiert ist. Der Komponist porträtiert sich da mit seinen Tonbuchstaben (D-S-C-H) selber. Kentridge rückt dabei eine vermutete Liebesgeschichte zu Nasirowa ins Blickfeld, diskret zwar, aber doch unnötig, denn es banalisiert die Situation.

Die Partitur selber blieb weitgehend unangetastet. Einzig in der Tatsache, dass das Orchester und der Dirigent durch den einmal fertiggestellten Film zu einer bestimmten Tempogestaltung gezwungen sind, mag man eine Einschränkung sehen. Das betrifft aber eher zukünftige Interpreten. Das Luzerner Sinfonieorchester unter seinem Chef Michael Sanderling hat sich dieser Herausforderung Mitte Juni im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) mit enormer Verve, d. h. mit Energie und Leidenschaft hingegeben.

Die letzten paar Bilder des Films übrigens zeigen eine Art Satyrtanz aller Figuren (also auch der Diktatoren), so als gehe es ewig weiter. Sie tanzen, wie der Text sagt, über dem, was von Europa übriggeblieben ist. Das ist auf einmal wieder bedrückend aktuell geworden.

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Weltpremiere des Films «Oh, to Believe in Another World» zur 10. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch

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