In eine bessere Welt entrücken – Liederabende in der Ukraine

Mit der Hilfe von Silke Gäng veranstaltet Roman Melish Liederabende in der Ukraine.

Roman Melish (rechts) und Taras Stoliar in der St.-Andreas-Kirche in Kyjiw. Bild: Maryana Rogovska

Die sanften Akkorde verbreiten Geborgenheit. Die helle, knabenhafte Stimme von Roman Melish berührt in ihrer Zerbrechlichkeit. «Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden», singt der ukrainische Countertenor. «Hast du mein Herz zu warmer Lieb‘ entzunden, hast mich in eine bessre Welt entrückt!» Für diesen besonderen Liederabend am 25. November 2022 in der goldglänzenden St.-Andreas-Kirche in Kyjiw stehen Dieselgeneratoren bereit, damit bei Stromausfall das von Andriy Vasin gespielte E-Piano nicht stumm bleibt. Batteriegetriebene Lampen sind ebenfalls besorgt. Nur bei Bombenalarm müsste man abbrechen. Aber es bleibt ruhig. Die zum Konzert eingeladenen Kriegsflüchtlinge können sich für eine Stunde in eine bessere Welt träumen. Ein Stück Normalität im Chaos, ein wenig Balsam für die Seele.

Banduraspieler und Soldat

Bis vor wenigen Tagen hat Taras Stoliar noch an der Ostfront im Donbas gekämpft. Nun sitzt der Soldat im Kampfanzug neben dem Sänger und spielt die Bandura, das ukrainische Nationalinstrument. Auch diese aus dem 6. Jahrhundert stammende Laute klingt mit ihren zarten, silbrigen Tönen beruhigend. In Sowjetzeiten wurde die Bandura als Ausdrucksmittel des ukrainischen Nationalbewusstseins erbittert bekämpft. Dmitri Schostakowitsch berichtet in seinen posthum veröffentlichten Memoiren von einer Massenexekution an Banduraspielern in den 30er-Jahren.

Stoliar ist eigentlich professioneller Musiker und spielt im Naoni-Orchestra, dem nationalen Orchester für Volksinstrumente. Seit dem Angriff Russlands verteidigt er sein Heimatland. Für das Konzert brauchte er eine Sondererlaubnis der Militärbehörde. «Wir konnten so zeigen, dass auch Musiker als Soldaten für unser Land kämpfen – und dass Soldaten auch Musiker sein können», sagt Roman Melish im Videogespräch. Deutsche und ukrainische Lieder hat der Sänger für dieses Konzert zusammengestellt, das man zuvor auch an zwei Abenden im ehemals russisch besetzten Irpin in einer Bibliothek veranstaltete. «Das Publikum war sehr berührt. Ich habe viele Tränen gesehen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer haben für die Dauer des Konzertes vergessen, dass sie Flüchtlinge sind», erzählt er.

Unterstützung aus Basel

Dass diese Liederabende mitten im Krieg stattfinden, ist Silke Gäng zu verdanken. Die Mezzosopranistin und künstlerische Leiterin von Lied Basel hat mit Roman Melish zusammen in Basel studiert. Auch in den letzten Jahren, als er wieder in Kyjiw wohnte, kam er zu Konzerten in die Schweiz. «Wir waren eher Kollegen als Freunde», sagt Gäng beim Gespräch in ihrer Heimatstadt Freiburg. Als Russland die Ukraine angriff und sie auf Romans Instagram-Profil furchtbare Bilder aus dem Krieg sah, war sie tief bewegt und nahm zu ihm Kontakt auf. «Es gab damals bei uns viele Solidaritätskonzerte. Ich wollte den Menschen vor Ort mit Musik helfen. Aber wird Musik überhaupt gebraucht, wenn man ums Überleben kämpft?»

Beim Basler Liedfestival stellt sie mit ihren Mitstreitern das Kunstlied in einen grösseren gesellschaftlichen Kontext und geht der Frage nach, was Musik bewirken kann. Der Krieg sei sozusagen der Realitycheck gewesen. Sie sammelte in Basel Spenden für das ambitionierte Vorhaben in der Ukraine, feilte mit Roman am Programm und sprach ihm die deutschen Texte ein, damit er die korrekte Aussprache üben konnte. Dass es mit Mykola Lyssenko sogar einen ukrainischen Komponisten gab, der im 19. Jahrhundert in Leipzig bei Carl Reinecke studiert und die deutsche Kunstliedtradition in der Ukraine eingeführt hatte, erfuhr sie erst durch Romans Recherchen.

Musik, um zu fühlen

Für ihn selbst war das Kunstlied Neuland. Der Countertenor ist auf Alte Musik spezialisiert. Deshalb kam er 2013 zum Studium an die Schola Cantorum Basiliensis. Deshalb kehrte er 2019 wieder in die Ukraine zurück, um dort die historische Aufführungspraxis bekannter zu machen. Dass er selbst nicht zur Waffe greifen muss, hat er seinem Gesang zu verdanken. Nach dem zehnten Kriegstag erhielt er einen Musterungsbescheid. Der verantwortliche Soldat im Militärbüro erkannte ihn als Sänger, war er doch im ukrainischen Fernsehen in der Show The Voice wenige Tage zuvor mit einer Vivaldi-Arie zu sehen gewesen – und schickte ihn wieder weg.

Den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 erlebte Roman im Haus seiner Eltern auf dem Land in der Westukraine. «Ich war total gelähmt und hatte eine unglaubliche Angst.» Eigentlich wollte er am nächsten Tag nach Kyjiw zurückkehren. Nun herrschte überall Panik. Die Autos stauten sich. Die Supermärkte wurden leergekauft. «Mein Bruder und ich haben unsere Dokumente gerichtet und einen Koffer gepackt für den Fall, dass wir fliehen müssen.» Erst am 6. April kehrte er im abgedunkelten Zug für ein Konzert an Mariä Verkündigung nach Kyjiw zurück. Und erlebte eine Stadt im Ausnahmezustand – mit Checkpoints, nächtlicher Ausgangssperre und Menschen, die in der U-Bahn leben, weil ihr Haus zerbombt wurde.

Am Anfang habe er sich im Krieg als Musiker völlig nutzlos gefühlt, aber das habe sich geändert. «Für mich bietet Musik die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was gerade passiert. Mit Musik kann ich meine Emotionen teilen. Die Menschen brauchen hier Musik, weil sie etwas fühlen möchten. Sie ist wichtig für den inneren Halt.» Der Krieg habe ihn verändert. Er sei direkter und weniger kompromissbereit als vorher. Jeder Tag könne sein letzter sein. Dieses Bewusstsein mache ihn aber auch empfänglicher für das Schicksal anderer.

Als sich Silke Gäng bei ihm meldete, empfand er dies «wie eine Umarmung in diesem furchtbaren Krieg». Die Unterstützung aus Basel bedeute ihm viel. «Sie hilft mir, damit ich anderen helfen kann. Unser Liederabend-Projekt hat mir Kraft und Energie zurückgebracht. Und meinem Leben wieder einen tiefen Sinn geschenkt.»

Inzwischen gibt Melish in Kyjiw wieder regelmässig Konzerte mit Alter Musik. Für den nächsten Liederabend könnte er sich einen Auftritt vor Soldaten vorstellen. Oder ein Konzert in Butscha, dem durch das russische Massaker weltweit bekannt gewordenen Ort. Aber zunächst kommt Roman Melish am 21. April nach Basel, um im Rahmen von Lied Basel einen Liederabend zu geben und sich bei den Spendern zu bedanken. Neben Andriy Vasin und der Sopranistin Ivanna Plish soll auch Taras Soliar  dabei sein, wenn er wieder eine Sondererlaubnis bekommt. «Gefährlich leben» heisst das Motto des Festivals, das lange vor Kriegsbeginn festgelegt wurde.

Konzert in der Bibliothek in Irpin. Bild: Yevhen Petrychenko

 

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