Alte Musik fürs heutige Publikum

Musik der Renaissance, mit der Gegenwart konfrontiert: Das Forum Alte Musik Zürich experimentiert mit neuen Konzertformen und bringt eine Wiederbegegnung mit einem vergessenen Schweizer Komponisten.

Das Vokalensemble Zürich West unter der Leitung von Marco Amherd. Foto: Max Nyffeler

 

Auf dem Programm steht eine vierzigstimmige Motette, aber auf der Bühne stehen nur zwei Sänger, die sich abwechseln. Die vierzig Stimmen des rund neunminütigen Stücks werden nämlich nicht, wie es normalerweise der Fall wäre, gleichzeitig gesungen, sondern eine nach der anderen. Jede Stimme wird einzeln aufgenommen, mit den bisher gesungenen gemischt über sechzehn Lautsprecher wieder in den Saal zugespielt, während einer der Sänger die nächste singt. Statt neun Minuten dauert es vierzig mal neun Minuten, also sechs Stunden reine Musikzeit und mit Pausen glatt acht.

Die Motette heisst Spem in alium und wurde in London vermutlich 1573 zum vierzigsten Geburtstag von Königin Elisabeth I. aufgeführt; der Komponist ist Thomas Tallis, eine Berühmtheit in seiner Epoche, die beiden Sänger sind der mühelos die Sopranlage erklimmende Countertenor Terry Wey und der Bassbariton Ulfried Staber; sie sind Mitglieder des Wiener Vokalensembles Cinquecento und treten beim Tallis-Projekt unter dem Namen «multiple voices» auf.

Wie ein Monumentalklang entsteht

Die Aufführung bildete einen Schwerpunkt des Herbstfestivals des Forums Alte Musik Zürich. Wer sich die Zeit nahm, den Sonntag in der weiträumigen, im Neorenaissancestil erbauten Kirche Zürich-Enge hörend zu verbringen, wurde Zeuge eines faszinierenden Experiments. Man erlebte das langsame Werden eines grossartigen Vokalwerks, Stimme um Stimme wuchs es zum monumentalen Klangereignis heran. Mit seinem wogenden Stimmengeflecht bescherte es ein Raumerlebnis, das dem des Originals mit acht im Raum verteilten Teilchören nicht nachstand. Durch die Reduktion auf nur zwei Sänger, die durch eine feinfühlige Technik (Markus Wallner und Bernd Oliver Fröhlich) unterstützt wurden, entfiel zwar die farblich abgestufte Wechselwirkung bei der Mehrchörigkeit, doch die Reinheit und Homogenität des Klangs sorgte für eine nicht minder spannende Hörerfahrung.

Nach der achtstündigen Aufführung der Motette Spem in alium von Thomas Tallis (v.l.n.r.): Terry Wey, Bernd Oliver Fröhlich, Markus Wallner, Ulfried Staber. Foto: Max Nyffeler

Die Konzerte des von der Barockflötistin Martina Joos und dem früheren Radioredaktor Roland Wächter geleiteten Forums Alte Musik, die jährlich im März und September stattfinden, warten stets mit originell gestalteten Programmen auf und bringen damit die Musik aus früheren Epochen dem heutigen Publikum auf intelligente Weise nahe. Über den harten Kern der mehr als zweihundert Vereinsmitglieder hinaus locken sie auch weitere Hörer an, deren Interesse über das gängige Klassikrepertoire hinausreicht. Und was manche dabei überraschen mag: Diese Musik klingt für unsere Ohren überhaupt nicht fremd. In der Klangwelt einer Motette von Tallis oder in einem Lied von John Dowland erkennt man mühelos die Wurzeln unseres heutigen Musikverständnisses.

Transhistorische Konzertpraxis

Im Zentrum des diesjährigen Herbstfestivals stand nebst Tallis das «Dreigestirn» William Byrd, John Dowland und Henry Purcell, die ersten beiden führende Komponisten der elisabethanischen Epoche, der dritte die überragende Gestalt der englischen Barockmusik. Alle vier wurden gleich im Eröffnungskonzert vorgestellt, in einer zeittypischen Mischung von geistlichen und weltlichen Werken. Als kleines Fenster zu unserer Zeit erklang dazwischen der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entstandene Chorsatz Advance, Democracy von Benjamin Britten, der in England als legitimer Erbe Purcells gilt. Interpreten waren das Vokalensemble Zürich West unter Marco Amherd. Das junge Ensemble, Preisträger in der Elite-Kategorie des Schweizerischen Chorwettbewerbs, zeigte mit ansteckender Musizierfreude und schwerelosem Wohlklang, was es seinem Ruf schuldig ist.

Die Programmidee, Altes und Neues miteinander zu kombinieren, stand auch beim Konzert von drei Mitgliedern des Ensembles thélème Pate. Lieder aus dem 1600 veröffentlichten Second Booke of Songs von John Dowland wechselten sich ab mit Solonummern aus den Songbooks von John Cage. Eine unkonventionelle Idee, die vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen wurde. Von öder Langeweile waren nur die minutenlangen szenischen Einlagen wie Kartenlegen und das Schnüren von Schuhbändeln – ein Hinweis auf die Zufallsoperationen, die für Cage oft zum kompositorischen Geschäft gehörten. Da fehlte es am Gespür für eine stimmige Konzertdramaturgie. Der Transhistorismus, der hier wie auch beim Vokalensemble Zürich West ansatzweise praktiziert wurde, könnte sich hingegen als zukunftsträchtiges Modell erweisen.

Komponist zwischen den Zeiten

Zweiter grosser Schwerpunkt des Festivals war die Aufführung der Messa Solenne a 3 Cori von Franz Joseph Leonti Meyer von Schauensee (1720–1789) durch das Vokalensemble larynx und das Capricornus Consort Basel unter der Leitung von Jakob Pilgram. Der heute weitgehend vergessene Komponist, Luzerner Patriziersohn mit besten Verbindungen in das kirchliche und gesellschaftliche Establishment seiner Zeit, war Ratsherr, Geistlicher, Organist und Kapellmeister an der Luzerner Hofkirche und zwischendurch auch einmal Söldnerführer in Italien. Ein Hansdampf in allen Gassen, der nach einer musikalischen Ausbildung in Mailand seinem kompositorischen Enthusiasmus freien Lauf liess. In seiner über zweistündigen Messe von 1749, die nun von einem Genfer Musikologenteam in einer kritischen Edition neu zugänglich gemacht wurde, zeigt sich das in einer Fülle von teils originellen, teils unausgegorenen Ideen und extrem grosszügigen Zeitbegriff; allein die ersten beiden Messesätze dauern schon siebzig Minuten.

Geistliche und weltlich-konzertante Elemente stehen unvermittelt nebeneinander. Jeder Messesatz wird durch eine kurze Sinfonia eingeleitet, eine Reverenz an die frühe sinfonische Praxis der Mailänder Schule. Mit schmetterndem Blech und einem auf den Wechsel Tonika-Dominante festgenagelten Viervierteltakt herrscht darin zumeist ein festlich-pompöser Ton vor, der zu Beginn sogar auf das erste Kyrie übergreift. Im Rahmen der damaligen Konvention sind zwischen die Messesätzen auch drei Offertorien und – wiederum mit viel Trara – sogar eine rudimentäre instrumentale Battaglia eingeschoben. Doch der Komponist konnte auch andere Töne anstimmen. Das zeigt sich etwa in verspielten Echowirkungen, in der dunkel gefärbten Crucifixus-Passage oder in der Fortissimo-Arie mit drei Bässen im Anschluss an das Sanctus. Und zweihundertfünfzig Jahre vor den berühmten drei Tenören gibt es bei Meyer von Schauensee bereits ein Terzett in dieser Stimmlage.

Bei allem Pomp atmet die Messe den Geist des galanten Zeitalters, was sich in der vereinfachten Harmonik und Metrik sowie einer gefälligen Melodik manifestiert. Die formelhafte Verwendung der barocken Figuren und Reste eines harmonisch ausgehungerten Generalbasses kennzeichnen das Werk als Spätprodukt einer ausgehenden Epoche.

Herausstechendes Merkmal der Messe ist jedoch die Dreichörigkeit. Meyer von Schauensee komponierte sie für das Chorherrenstift Beromünster, wo es drei Emporen mit je einer Orgel gibt. Im Zürcher Fraumünster kam diese Raumaufteilung nur begrenzt zur Wirkung. Anders vermutlich in der Klosterkirche Muri, wo die Messe einige Tage später zur Zweitaufführung kam. Sie wurde vom Radio und Fernsehen mitgeschnitten und wird am kommenden Donnerstag, 5. Okt. um 20 Uhr auf SRF 2 Kultur gesendet, am Fernsehen (mit einer Auswahl von Sätzen) am 24. Dezember um ca. 21.45h.

 

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