Langer Atem für das Schweizer Musiklexikon

Eine Tagung in Bern zeigte auf, mit welchen medialen Umbrüchen das «Musiklexikon der Schweiz» (MLS) fertig werden muss. Interessierte sind im Rahmen eines Partizipationsprojekts eingeladen, beim Verfassen neuer Einträge mitzuwirken.

Auf der Startseite des Schweizer Musiklexikons ist die Suche integriert. Bild: Screenshot

Die Schweiz verfüge im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern über kein modernes Nachschlagewerk zur Musikgeschichte. Die bestehenden Lexika seien veraltet und würden der Vielfalt und dem Reichtum des Musiklebens der Schweiz nicht gerecht, schreibt die Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) auf ihrer Webseite. Ein neues, wissenschaftlich fundiertes Musiklexikon werde schon seit Jahrzehnten verlangt.

Gearbeitet wird an dem geplanten und mittlerweile in ersten Fragmenten realisierten Musiklexikon der Schweiz (MLS) bereits seit 2013. An der Universität Bern ist für das MLS aus den bestehenden Nachschlagewerken eine Stichwortliste erstellt worden. Dabei sind etwa 11 000 ältere Lexikonartikel zu 6800 Personen digitalisiert und in einer Datenbank aufbereitet worden. Neue, eigene Artikel zu verfassen, stellt nun aber eine weitaus grössere Herausforderung dar, als es sich das Gründungsteam vorgestellt haben dürfte, denn in den letzten Jahren hat die Welt der Enzyklopädien fundamentale Veränderungen erfahren. Statt in Büchern finden sich diese heute im Internet.

Multimedial, veränderbar, mehrsprachig

Mit der Medienrevolution hat sich auch die Textredaktion vollkommen verändert. Lexikonartikel sind nicht mehr erratische Texte, die vielleicht für zweite oder dritte Auflagen nach einigen Jahren korrigiert oder ergänzt werden, sondern im Extremfall liquide Gebilde mit integrierten Audio-, Video- und Bildmaterialien, an denen Redaktoren, externe Freiwillige und weitere Beteiligte unablässig herumwerkeln. Neben den eigentlichen Artikeln muss zum Beispiel nun auch die Geschichte ihrer Veränderungen dokumentiert werden. Nicht zuletzt müssen Internet-, Datenbank- und Multimedia-Fachkräfte ins Team integriert werden. Darüber hinaus findet zurzeit eine Umwälzung in Sachen Mehrsprachigkeit statt: Lexikon-Nutzende greifen immer häufiger auf automatische Übersetzungshilfen zurück, um Texte in ihrer Muttersprache lesen zu können. Das hat tiefgreifende Konsequenzen für das Sprachen-Design eines Nachschlagewerks, besonders, wenn, wie beim MLS, ein mehrsprachiges Lexikon entsteht.

Das MLS, dessen Finanzierung noch keineswegs gesichert ist, sieht sich damit vor vielerlei Herausforderungen: Zum einen müssen seine Exponenten zurzeit ständig neu definieren, wie es aussehen soll – im Bewusstsein darum, dass sich digitale Lexika und ihre Nutzungen in wenigen Jahren wieder ganz anders präsentieren können. Zum andern gilt es, alle, die an dem grossen Werk mitarbeiten werden, auf eine Art zu organisieren, mit der akademische Institutionen in der Schweiz noch wenig Erfahrung haben. Eine professionelle, hauptamtlich damit beschäftigte Redaktion, wie sie vor Jahrzehnten für derartige editorische Mammutprojekte üblich war, genügt nicht mehr. Heutzutage sind in solche Projekte auch zahllose freie Autorinnen und Autoren integriert, die mit sachlichen Spezialgebieten oder geografischen Regionen vertraut sind, und es braucht Moderationen für laufende Kommentare zu Artikeln.

Datenbanken und Citizen-Science-Projekte

Um das Projekt etwas weiterzubringen, hat das Kuratorium des MLS in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und der SMG an der Universität Bern ein Kolloquium (23. und 24. November 2023) und einen Workshop (25. November 2023) für interessierte Autoren und Autorinnen durchgeführt.

Was die Umwälzungen in der Medienwelt für die Aktualisierung traditioneller Lexika bedeutet, zeigte sich etwa in einem Bericht über die Retrodigitalisierung des Theaterlexikons der Schweiz (tls.theaterwissenschaft.ch). Im Kolloquium staunte man aber auch darüber, wie vielfältig die Landschaft digitaler Enzyklopädien mittlerweile ist. Vorgestellt wurde etwa das Kompetenznetzwerk Memoriav  zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturerbes der Schweiz, ein Dictionnaire du Jura  oder das Westschweizer Projekt notreHistoire.ch, eine historisch ausgerichtete Plattform, auf der die Romands Sichtweisen und Dokumente zur Vergangenheit austauschen können und die entsprechende Ableger in den andern Landesteilen hat (unseregeschichte.ch, lanostrastoria.ch, nossaistorgia.ch). Es gibt auch einen «MusikerIndex», eine Namenliste für in der Schweiz im 19. Jahrhundert tätige Persönlichkeiten aus dem Musikleben. Dieser Index ist eine von mehreren Datenbanken des Instituts Interpretation an der Hochschule der Künste Bern. Der Wikipedia-Kulturbotschafter Diego Hättenschwiler ergänzte die Tagung mit Einblicken in die Arbeit des weltweiten Onlinelexikons.

Freie Mitwirkende und viel Geld sind gesucht

Die Übersetzerin und Musikwissenschaftlerin Irène Minder-Jeanneret, die Initiantin des MLS, wies darauf hin, dass für das auf zehn Jahre konzipierte Projekt mit Kosten von rund 9 Millionen Franken gerechnet werden muss. Die ganz grosse Herausforderung dürfte dabei die Suche nach freien Mitwirkenden und deren Zusammenarbeit mit der MLS-Redaktion werden. Geht man davon aus, dass ein umfassendes Schweizer Musiklexikon vielleicht 10 000 neue Artikel enthalten müsste, ist ein entsprechendes kulturelles Partizipationsprojekt doch ein überaus ambitiöses Unterfangen.

Auf der anderen Seite ist kulturelle Teilhabe seit 2016 ein Schwerpunkt der Schweizer Kulturpolitik. Im Rahmen einer «Citizen Science»-Initiative der Akademien der Wissenschaften Schweiz hat das MLS-Team denn auch ein Partizipationsprojekt ausgeschrieben. Gruppen und Einzelpersonen werden dabei angeregt, für das MLS lokale Musikkulturen mit Worten, Bildern und Klängen zu dokumentieren. Im Workshop im Anschluss an die Tagung liess sich eine noch recht kleine Gruppe Interessierter darin instruieren, wie Texte vorverfasst werden sollten, damit sie lexikontauglich sind.

Link zum Citizen-Science-Projekt:
schweizforscht.ch/projekte/musiklexikon-der-schweiz-1153

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