Sonic Matter: Sprung ins Ungewisse

Die dritte Folge von Sonic Matter, dem Festival für experimentelle Musik Zürich, stand unter dem Motto «Leap». An 4 Tagen wurden 16 Veranstaltungen an mehreren Konzertorten und in unterschiedlichen Formaten angeboten.

Eröffnungskonzert im Schiffbau: Mazen Kerbajs Bilder werden auf die Leinwand projiziert. Foto: Kira Kynd

Die frohe Kunde gleich zu Beginn: Sonic Matter kann weitergeführt werden. Auf Antrag des Zürcher Stadtrats hat der Gemeinderat beschlossen, das Festival für experimentelle Musik in den kommenden vier Jahren weiterhin mit einem Betriebsbeitrag von jährlich 250 000 Franken zu unterstützen. Die Stadt Zürich ist der Hauptgeldgeber von Sonic Matter. Das 2021 aus den Tagen für Neue Musik Zürich hervorgegangene Festival befand sich bisher in einer Pilotphase und wurde von einer externen Firma auf seine Kreditwürdigkeit geprüft.

Andersartiges kennenlernen

Nachdem die erste Ausgabe unter dem Motto «Turn» den Blick auf musikalische und aussermusikalische Veränderungen gerichtet hatte und die letztjährige mit dem Motto «Rise» das Aufstehen auch in einem politischen Sinn verstehen wollte, bildete nun das Motto «Leap» die Klammer für das dritte Jahr. Im Vorwort des Programmhefts luden die beiden künstlerischen Leiterinnen Katharina Rosenberger und Lisa Nolte das Publikum ein, «gemeinsam den Sprung ins Ungewisse zu wagen». Die Vernetzung der Welt solle als Chance genutzt werden, das Andersartige kennenzulernen, sich auf das Unvorhergesehene einzulassen. Neben Musikerinnen und Musikern aus der Schweiz waren auch zahlreiche ausländische Künstler und Künstlerinnen, vornehmlich aus dem Vorderen Orient, eingeladen. Und als Gast war das Festival Irtijal Beirut mit von der Partie.

Überraschende Klänge und Wendungen

Eine Konkretisierung dieser Ideen lieferte gleich das Eröffnungskonzert im Schiffbau des Schauspielhauses Zürich. Spannend war etwa die Begegnung mit der iranischen Komponistin und Qanun-Spielerin Nilufar Habibian. In ihrem Stück Becoming gehen die orientalische Zither mit der E-Gitarre, dem Cello und der Bassklarinette verblüffende Verbindungen ein. Einen kräftigen Kontrast zu dieser Darbietung des Genfer Ensembles Contrechamps setzten der Gitarrist Sharif Sehnaoui und der Videokünstler Mazen Kerbaj, die beiden Gründer des Beiruter Festivals Irtijal, mit ihrer Stegreif-Performance Wormholes. Zu den ungewohnten Klängen auf der präparierten Gitarre zeichnete und sprayte Kerbaj abstrakte Bilder auf eine Folie, die simultan auf eine Leinwand projiziert wurden. Im Licht des aktuellen Gaza-Krieges las sich dann der plötzlich auftauchende Satz «Wir sind die Toten von morgen» als deutliche politische Botschaft. Die zum Schluss präsentierte Komposition für Live Ambisonic Turntables und immersive Elektronik der Komponistin Shiva Feshareki bot zwar überraschende 360-Grad-Klangerlebnisse, dauerte aber gemessen am Ideenreichtum eindeutig zu lange.

Mit einem Eklat war das traditionelle Tonhalle-Konzert verbunden, das diesmal, wie Sonic Matter kurzfristig mitteilte, nicht als Teil des Festivals stattfand. Über die Gründe schwiegen sich beide Veranstalter aus. Auf Nachfrage war vom Pressesprecher von Sonic Matter lediglich zu erfahren, dass die Entscheidung «mit der geopolitischen Lage zu tun» habe. Die Abkoppelung des Tonhalle-Konzerts bedeutete für Sonic Matter auf jeden Fall einen Prestigeverlust.

Klangparcours im Freien. Foto: Kira Kynd

Lounge, Party, Parcours, Marathon

Neben den herkömmlichen Konzerten bot Sonic Matter auch diesmal alternative Präsentationsformate an: so etwa die Listening Lounge mit aktueller elektroakustischer Musik aus zwanzig Ländern, die Party für junge Leute mit der DJ-Gruppe Frequent Defect aus der Beiruter Clubszene oder einen Klangparcours im Freien. Der vierstündige Konzertmarathon Long Night of Interferences im Theaterhaus Gessnerallee liess Musik aus verschiedenen Kulturen aufeinanderprallen. Den Schweizer Anteil daran bot die Uraufführung eines neuen Werks des Genfer Komponisten Denis Rollet, bei dem Violine, Bassklarinette und Live-Elektronik verschiedene Stadien der Annäherung und Entfernung durchlaufen.

«Umva!» von Aurélie Nyirabikali Lierman mit der Gruppe Silbersee im Schlusskonzert in der Roten Fabrik. Foto: Kira Kynd

Einen grossen geografischen und ästhetischen Sprung wagte das Festival mit der Schlussveranstaltung in der Roten Fabrik. Die in den Niederlanden lebende Komponistin Aurélie Nyirabikali Lierman und ihre Gruppe Silbersee entführten das Publikum in ihrer performativen Installation Umva! nach Ruanda. Gegenstand bildet das Leben von Aurélies Grossvater Kanyoni Ladislas, der in Ruanda als Kuhhirte und Naturheiler gelebt und mit 113 Jahren gestorben ist. Durch die Erzählung, die tänzerischen Elemente und das Spiel auf traditionellen afrikanischen Instrumenten sowie der «europäischen» Geige entstand ein faszinierendes afro-europäisches Musiktheater.

Fazit nach drei Jahren

Nach der dritten Durchführung von Sonic Matter kann man beobachten, dass sich das Festival inzwischen zu einem festen Bestandteil der avantgardistischen Musikszene entwickelt hat, den man nicht mehr missen möchte. Die Vielfalt der Präsentationsformen, die ästhetische Breite der Darbietungen und die Mitwirkung von Künstlern aus der halben Welt birgt aber auch die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit und führt zudem zu einer Aufspaltung des Publikums in verschiedene Interessengruppen.

Listening Lounge mit aktueller elektroakustischer Musik aus zwanzig Ländern. Foto: Kira Kynd

 

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