Befriedigter Abgang mit leise irritierendem Thema

Ein Augenschein vom 4. bis 6. August beim Menuhin-Festival in Gstaad. Es ist das letzte unter der Leitung von Christoph Müller.

Christoph Müller bei der Kirche in Saanen. Foto: Tomas Wüthrich

Balkanroute – das klingt nach Massenflucht und Leid, nach Schleppern und der Angst vor unkontrollierter Einwanderung. «Balkanroute» heisst auch das Konzertprogramm, das Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und Gastmusikerinnen und -musikern aus dem Balkan beim Gstaader Menuhin-Festival in der ausverkauften Kirche Saanen präsentiert und damit für Begeisterung sorgt. Hier wird die Balkanroute zur spannenden, sinnlichen musikalischen Entdeckungsreise und erzählt von den Menschen, die dort leben. Der Titel passt nicht nur gut zum Thema Migration, das Intendant Christoph Müller für seine letzte Festivalausgabe gewählt hat. Er spielt auch mit den Erwartungen des Publikums und führt über das Musikalische hinaus. Genau dieses Mehr an gesellschaftlicher Relevanz möchte Müller erreichen.

Westbalkan – Ostbalkan

Dabei ist der Weltmusik-Abend ganz unpolitisch. Keine Statements, kein Aktivismus. Die Lieder erzählen von Sehnsucht und Liebe, Trauer und Tod. Sie versprühen auch unbändige Lebensfreude wie das Romalied Dumbala Dumba, das Luciana Mancini mit kehliger Stimme und geschmeidigem Hüftschwung, angeheizt vom sensationellen Akkordeonisten Petar Ralchev und den kreativen Perkussionisten David Mayoral und Tobias Steinberger, zu einer Party werden lässt. Die Westbalkanroute führt über Griechenland (das getragene Are mou Rindineddha/Wer weiss, kleine Schwalbe), Mazedonien (So maki sum se rodila/Mit Schmerzen wurde ich geboren) und Serbien (Gusta noćna tmina/Tiefe dunkle Nacht) nach Kroatien, das mit dem von Céline Scheen und Vincenzo Capezzuto innig vorgetragenen geistlichen Gesang Panis angelicus (Engelsbrot) aus dem 17. Jahrhundert repräsentiert ist.

Auf der Ostbalkanroute verzückt Peyo Peev mit seinem virtuosen Spiel auf der Gadulka, der bulgarischen Kniegeige. Auch die arabischen Instrumente Oud (Kyriakos Tapakis) und Kanun (Stefano Dorakakis) bringen neben der griechischen Lyra (Giorgos Kontoyiannis) besondere Farben in die zu weiten Teilen improvisierte Musik, die nur manchmal in den zahlreichen Soli etwas ausufert. Christina Pluhar leitet an der Theorbe mit dezentem Kopfnicken das multikulturelle Ensemble. Die insgesamt fünf Sängerinnen und Sänger, darunter besonders ausdrucksstark Katerina Papadopoulo und Nataša Mirković, sorgen ebenfalls für eine grosse musikalische Bandbreite.

Erfreuliche Bilanz über 24 Jahre

Mit seiner Themensetzung hat sich Christoph Müller nicht nur Freunde gemacht. «Es gab tatsächlich einzelne kritische Reaktionen auf verschiedenen Ebenen. Das Thema Migration provozierte einzelne Menschen – und dem Risiko haben wir uns ausgesetzt», sagt der scheidende Intendant. Nach «Demut» und «Transformation» bildet «Migration» den letzten Teil des auf drei Jahre angelegten «Wandel»-Zyklus. «Nach Pandemie und angesichts von Kriegsereignissen und dem rasant fortschreitenden Klimawandel wollte und konnte ich nicht mit Unverbindlichem weitermachen und sah es als meine Aufgabe an, mit unseren Programmen Zeichen zu setzen», erklärt Müller die Profilschärfung der letzten Jahre.

Umso mehr freut es ihn, dass sich das mit 7,5 Millionen Franken budgetierte Programm, davon 15 Prozent öffentlich gefördert, auch beim Publikum ankommt und am Ende zwischen 27 000 und 28 000 Tickets verkauft sein werden – rund 10 Prozent mehr als 2024. Als Müller die Intendanz im Jahr 2002 bei einem damaligen Budget von 2,5 Millionen Schweizer Franken übernahm, war die Zukunft des von Yehudi Menuhin 1957 gegründeten Konzertfestivals unsicher. Vor allem mit den insgesamt sieben Akademien – darunter die drei Wochen dauernde Conducting Academy – hat der Kulturmanager das Festival erweitert und die Nachwuchsförderung ins Zentrum gestellt. Neben den vielen Kammerkonzerten in den Kirchen des Saanenlandes machen auch die Orchester- und Opernkonzerte im grossen Zelt das Festival zu etwas Besonderem. Dass der Abschied von Christoph Müller im letzten Konzert am 6. September zusammen mit dem Beginn der neuen Intendanz von Daniel Hope gefeiert wird, betont den harmonischen Übergang.

Etwas Missfallen und viele Glücksgefühle

Im Konzert Beethoven im Heute in der Kirche Lauenen zeigen Patricia Kopatchinskaja und der Pianist Joonas Ahonen den Komponisten wirklich als Revolutionär. Die grosse Linie geht bei den radikalen Zuspitzungen in den Violinsonaten Nr. 4 in a-Moll und Nr. 8 in G-Dur zwar etwas verloren, aber das rasend schnell genommene Finale der G-Dur-Sonate beispielsweise erhält eine Radikalität, die aufhorchen lässt. Aufregend ist auch die Uraufführung von Márton Illés‘ Stück Én-kör V (Ich-Kreis V), das aberwitzige Virtuosität mit Klangexperimenten kombiniert. Die auch für das Publikum herausfordernde Komposition sorgt durchaus für Missfallen, wie man aus den Gesprächen nach dem Konzert heraushören kann.

Ein kollektives Hochgefühl herrscht dagegen nach dem Auftritt des Mandolinenstars Avi Avital mit seinem Between Worlds Ensemble, das süditalienische Musik und mit der Sängerin Alessia Tondo auch das entsprechende Temperament in die Kirche Saanen bringt. Bis auf Ausschnitte aus Emanuele Barbellas Mandolinenkonzert und aus Igor Strawinskys Suite italienne ist lauter Volksmusik zu hören – von Neapel bis Apulien: lebendig, authentisch, abwechslungsreich. Auch hier gibt es viel Raum für Improvisation (Luca Tarantino: Gitarre, Itamar Doari: Perkussion). Und die Tarantella wird nicht nur virtuos gespielt, sondern auch getanzt. Am Ende herrscht in der Kirche eine Stimmung wie bei einem Rockkonzert. Und man schaut in viele glückliche Gesichter.

Das Festival dauert noch bis am 6. September.

gstaadmenuhinfestival.ch/de

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