Neubeginn im Krematorium

Eine Utopie an ungewöhnlichem Ort: Katharina Rosenbergers neue Performance-Installation «The Gap» wurde in Genf und Zürich gezeigt.

Mitglieder des Ensembles Contrechamps: Maximilian Haft – Violine, Ingrid Schoenlaub – Violoncello, Noëlle Reymond – Kontrabass. Foto: Betina Kuntzsch

Ein mit blauen Zähnen blinkendes Unheuer in der Abendstille: So präsentiert sich einem das Alte Krematorium zwischen den Bäumen des Friedhofs Sihlfeld. Ein seltsamer Ort für ein Konzert, doch das Gebäude dient seit Langem nur noch als Abdankungshalle und für kulturelle Veranstaltungen. Dennoch wirkt er andächtig-schauerlich. So könnte es einst gewesen sein, wenn die Habsburgerfamilie am Karfreitag in die Hofburgkapelle ging, um einem Oratorium zum heiligen Grab von Kaiser Leopold I. zu lauschen. Wie damals in der Azione Sacra ging es auch diesmal wenn nicht um eine Welterlösung, so doch zumindest um einen Neubeginn, um ein «Schlupfloch in der Zeit», um jenen «Gap», von dem der Titel des Werks spricht. Will da jemand einer unheilvollen Gegenwart entkommen?

Traum und Wunder

Anfang September wurde Katharina Rosenbergers «Performance-Installation» in La Bâtie in Genf uraufgeführt, die Zürcher Erstaufführung erfolgte am 28. und 29. September – durchaus passender – im Sihlfeld. Denn in der Wahl dieses Orts, wo sich Aschermittwoch verwirklicht, steckt eine leise, wenn auch respektvolle Provokation. Wir betreten das Gebäude durch den Haupteingang. In der zentralen Halle, Salle d’écriture benannt, erklingt ein leiser musikalischer Prolog. Die Einstimmung wird unterfüttert mit Texten Franz Kafkas und Hannah Arendts. Kafkas «Er» wird von zwei Kräften bedrängt, die eine stösst ihn vom Ursprung her voran, die andere hält ihn zurück. Irgendwann – so sein Traum – wird er sich über seine kämpfenden Gegner erheben müssen. Arendts Vision wiederum spricht von «Wundern» im politischen Bereich und von der Hoffnung auf den handelnden Menschen. Ausserdem kann man auf Zetteln Fragen beantworten: Welche Erfahrung man in eine andere Galaxie mitnehmen möchte? Warum ein Neubeginn so schwierig sei?

Prächtig ausgestattete Lücke

Dann öffnen sich drei grosse Seitenräume. Linkerhand der Raum der «Vergänglichkeit» mit einem grossen, urtierartigen Gerüst, dessen metallische Perkussionsinstrumente Brian Archinal zum Klingen bringt. Rechterhand das «Archiv» voller vermotteter Ausstellungsstücke, ein altertümliches Kuriositätenkabinett; auf Plattenspielern kann man Fellplatten hören. In einem dritten Raum, wo früher die Verbrennungshalle war, ist eine «Time Machine» zu erleben, ein rosaviolettes elektronisches Theater ewiger Musiken, ein Nirwana.

Vergänglichkeit. Foto: Betina Kuntzsch

Diese so schön gestalteten und farbengesättigten, fast barock ausgestatteten Räume werden vom Publikum erwandert. Es ist beeindruckend, was die Komponistin mit dem Regisseur Matthias Rebstock und einem engagierten multimedialen Kollektiv zusammengetragen hat, echtes Teamwork. Das Ensemble Contrechamps aus Genf und das Collegium Novum Zürich haben sich hier einmal mehr erfolgreich zusammengeschlossen, und darin spiegelt sich so nebenbei auch Biografisches der Komponistin. Die Zürcherin, Co-Leiterin des Festivals Sonic Matter, unterrichtet Komposition an der Haute école de musique in Genf.

Kaum einlösbares Konstrukt

Wo denn die Zusammenhänge von all diesen Eindrücken sein mögen, fragt man sich allerdings und hofft auf den Schlussakt, wenn sich alle wieder in der Salle d’écriture eingefunden haben. Dort hört man eine ausschwingende, sich droneartig ausbreitende Musik, voll innerem Pathos, wohlklingend und doch durchzogen. Ist das diese «Lücke», das «geheime Portal in andere Welten», ist das der «Neubeginn»? Es ist die Crux solcher installativer, postdramatischer Musiktheaterproduktionen, dass es ihnen oft an Schlüssigkeit und Zwangsläufigkeit mangelt. Aus den vier Räumen ergeben sich nicht konsequent das Ende und eben der Neubeginn. Ein textlich-musikalisch-szenisches Konstrukt wird ausgespannt, das überfrachtet wirkt und dessen Suche letztlich nirgends hinführt. Man gerät auch ästhetisch in einen Clinch: Welchen Gemeinsinn erfordert dieser Neuanfang? Wie schön darf er klingen, damit er nicht gleich nach New Age riecht? So verlässt man das Gebäude mit vielen offenen Fragen. Aber gewiss auch: Es ist etwas zutiefst Menschliches, an Wunder zu glauben, die Hoffnung stirbt zuletzt.

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