Bukolisches

Heinz Holliger und György Kurtág tauschen auf dieser Aufnahme Erinnerungen aus, antworten sich aus der Ferne: Zeugnis einer musikalischen Wahlverwandtschaft.

Ausschnitt aus dem Cover

Der einsame Hirte am Strand, der Geliebten harrend, auf dem Doppelrohrblatt blasend, rufend, klagend: Bukolische Assoziationen dieser Art gehen einem durch den Kopf, vom ersten Ton an, einem Brief aus der Ferne, den György Kurtág im Gedenken an die 2014 verstorbene Harfenistin Ursula Holliger schrieb. Ihr Mann, Heinz Holliger, intoniert dieses Stück auf der Oboe herzzerreissend elegisch. Kein Zufall, wenn wir unter den 37 Tracks dieser CD mehrmals einer ähnlichen Stimmungslage begegnen, in Kurtágs …ein Sappho-Fragment etwa oder in …(Hommage à Tristan) – im 3. Akt der Oper taucht das Englischhorn auf. Holliger seinerseits greift den intensiven und warmen Tonfall auf. Oft handelt es sich um Erinnerungen an Verstorbene, Hommages an Freunde, Reminiszenzen an die Musikgeschichte, sehr berührend, zurufend, nachrufend, beschwörend, klagend, mal in zarten, mal in dunklen Farben, im Spiel von Holliger und Marie-Lise Schüpbach auf Oboe und/oder Englischhorn, und zumal, wenn Ernesto Molinaris Kontrabassklarinette hinzutritt. Es sind auch instrumentale Dialoge und Paarungen, wunderschön vorgetragen, mit Charakter, genau gezeichnet.

Zwiegespräche heisst die CD, die das Label ECM Holliger zum 80. widmet. Auf dem Cover erscheinen beider, Holligers und Kurtágs Name. Es ist das Zeugnis einer langen künstlerischen Freundschaft. Im ersten Moment mag erstaunen, wenn Holliger meint, ihre Kompositionsweisen seien einander ähnlich. Viele ältere Werke kommen einem gänzlich verschieden vor, und doch haben sich die beiden in den letzten Jahrzehnten wahlverwandtschaftlich angenähert. Schliesslich hatten sie in Sándor Veress den gleichen Lehrer. Diese sehr stimmige CD erzählt davon. Und wenn man denkt, das Ganze klinge doch sehr homogen, entdeckt man Nuancen, geheimnisvolle. Die Bezüge werden reicher und enger. So gehen die Stücke zuweilen zwischen beiden hin und her. Der Schweizer vertont Die Ros’ von Angelus Silesius, und der Ungar entgegnet darauf mit einer weiteren Vertonung, die Sarah Wegener singt.

Schliesslich mischt sich noch ein weiterer Künstler ins Gespräch. Der Lyriker Philippe Jaccottet rezitiert sieben seiner Gedichte, die sich Holliger in einer «Lecture pour hautbois et cor anglais» vornimmt. Er folgt darin den Worten, geht aber mit jeder Air ein Stück weiter, ins Mikrotonale und im letzten Stück Oiseaux schliesslich bis ins Geräuschhafte … Es ist eine Musik, die ins Weite reicht und einen fernen Horizont aufsucht.

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Heinz Holliger/György Kurtág: Zwiegespräche. Heinz Holliger, Oboe, Englischhorn, Klavier; Marie-Lise Schüpbach, Englischhorn, Oboe; Sarah Wegener, Sopran; Ernesto Molinari, Klarinetten. ECM 2665

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