Musikfestival Bern: Verwurzelungen

Indem es lokale Kräfte bündelt und sie in einen internationalen Vergleich stellt, hat das Musikfestival Bern im Lauf der letzten zehn Jahre sein unverwechselbares Gepräge entwickelt. Diesen September fragt es nach unseren Wurzeln und bietet dazu ein vielfarbiges Programm.

Sinnliche Musikerlebnisse im Berner Münster. Foto: Annette Bouteillier

Das mathematische Wurzelzeichen steht heuer als Thema über dem Programm des Musikfestivals Bern. Manch jemand wird dabei zunächst an mathematische Operationen denken, aber gleichzeitig öffnen sich dahinter auch imaginäre (Zahlen-)Räume und weiterführende Fragen und Assoziationen. Wo liegt unser Ursprung, wie tief reichen unsere Wurzeln: biologisch, kulturell und musikalisch, biografisch? Wie gehen wir damit um? Gerade heute?

Die Themen, die sich das Musikfestival Bern alljährlich gibt, sind mehrdeutig und lassen einen weiten Bedeutungsraum offen. Mit «Irrlicht», «Schwärme» oder «unvermittelt» waren frühere Jahrgänge überschrieben. Dazu können jeweils Musikschaffende aus Stadt und Kanton Bern ihre Projektentwürfe eingeben. Das vierköpfige Kuratorium, welches das Festival künstlerisch leitet, wählt daraus mehrere Konzepte aus, ergänzt sie mit eigenen Ideen und gestaltet damit ein Programm. Der Spielraum reicht dabei von Konzerten mit improvisierter und komponierter Musik und Musiktheater über Installationen und Performances bis hin zu Filmen und Diskussionsveranstaltungen. Die Vermittlung nimmt dabei einen wesentlichen Platz ein.

Wurzeljahr 2023

Jedes Projekt greift die Thematik auf seine Weise auf: Im Wurzeljahr 2023 ist da zum Beispiel das Ensemble Mycelium, das den Pilz schon im Namen trägt und das schon frühere Festivaljahrgänge auf unverwechselbare Weise bereichert hat. Die Wurzel dient ihm «als Metapher für unser gegenwärtiges Verwurzeltsein in der (realen und virtuellen) Welt, wir verwenden sie als (essbare) Materie (Wurzelgemüse), wir belauschen ihre Verbindungen und Anschlüsse im Kommunikationsnetz pflanzlicher Ökosysteme und wir nutzen sie als mathematische Komponente in der experimentellen Klangbearbeitung».

Dem Ursprung der Arten und mithin auch des Menschen geht das Vokalensemble SoloVoices in L’origine des espèces des greco-französischen Komponisten Georges Aperghis nach, der lange als Dozent an der Hochschule der Künste in Bern wirkte und das Théâtre musical in der Schweiz wesentlich mitprägte. Andere Konzerte gehen «Back to Bach» oder den lokalen Verwurzelungen nach, etwa der Künstlerin Meret Oppenheim, die hier einst in der Schule ihre rebellischen Seiten entdeckte.

Zahlreiche wichtige Schweizer Komponisten stammen aus Bern und besuchten hier einst den Unterricht bei Sándor Veress, so etwa Heinz Holliger, Jürg Wyttenbach oder Roland Moser. Dessen Brentanophantasien stehen im Zentrum des Konzerts «Wurzeln in Bern». Ausserdem vertont Moser im Auftrag des Festivals einen Text von Mani Matter. Der früh verstorbene Chansonnier aus der Bundeshauptstadt ist ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod immer noch eine Lichtfigur der hiesigen Kulturszene.

Mehrere Epochen

Eine andere wichtige Figur der Berner Szene wird im Konzert des Arditti-Quartetts gefeatured: Daniel Glaus, Komponist und bis vor einem Jahr Münsterorganist. Von ihm erklingt ein neues Streichquartett. Uraufführungen sind so ein wesentlicher Bestandteil des Musikfestivals Bern. Aber es versteht sich nicht nur als Festival für Neue Musik, sondern bringt immer mehrere Epochen ins Spiel. So erklingt zur Eröffnung etwa Mahlers Lied von der Erde, in der kammerorchestralen Version von Reinbert de Leeuw. Peter Rundel leitet ein Kollektivensemble.

Das Musikfestival Bern ist damit stark lokal und regional verwurzelt, sucht aber gleichzeitig den internationalen Vergleich und die Ausstrahlung über den engeren Bereich hinaus. Zu diesem Zweck wurde die Französin Éliane Radigue zur Komponistin im Fokus gewählt: Ihre einzigartige, reduzierte, zu den Grundlagen des Klingens reichende Musik wird in vier Konzerten des Festivals zu hören sein. Das belgische Vokalensemble Graindelavoix, das für die Musik des Spätmittelalters und der Renaissance radikal umwälzende Ansätze gefunden hat, ist als Ensemble in Residence in Bern zu Gast.

Musik und Wissenschaft

Das Musikfestival Bern versucht damit den Spagat: unmittelbare Klangerfahrung und die Vermittlung von Extremen. Die Kommunikation zum Publikum spielt dabei eine entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang ist auch eine Reihe zu sehen, in der Musik und Wissenschaft aufeinandertreffen: Aspekte des Festivalthemas – heuer zum Beispiel das Woodwideweb oder die Geburt – werden dabei herausgegriffen und diskutiert. Ein kurzes wissenschaftliches Impulsreferat wird künstlerisch ergänzt mit einem dazugehörigen neuen Stück oder einer Performance; dann treten beide Seiten ins Gespräch miteinander. So kommt es immer wieder zum anregenden Erfahrungsaustausch.

Das Musikfestival Bern « √ » findet dieses Jahr vom 6. bis 10. September statt. Tickets und Infos: musikfestivalbern.ch

Das Kuratorium (v.l.): Susanne Huber, Martin Schütz, Thomas Meyer, Vera Schnider. Foto: Samuel Paul Gäumann

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