Der wandelbare Klang der Y-Pipa
Die Pipa-Virtuosin Yang Jing hat das traditionelle chinesische Zupfinstrument mit einem elektronischen Modul erweitert.

Beim ersten Konzert des Lucerne Festivals im Sommer 2025 trat ich erstmals mit der neuen Y-Pipa auf, gemeinsam mit dem Saxofonisten und Komponisten Daniel Schnyder sowie einem gemischten Ensemble im KKL. Seit 2024 hatte ich dieses mit dem Schweizer Gitarrenrestaurator Matthias Pulfer entwickelte Instrument bereits in zahlreichen klassischen Kammermusik-Formationen eingesetzt – mit Erfolg.
Das in die traditionelle chinesische Pipa eingesetzte elektronische Modul bewahrt den ursprünglichen Klangcharakter des Instruments und eröffnet gleichzeitig durch elektrische Transformation neue Dimensionen der Wellenbewegung des Tones im Raum. Die klangliche Textur des akustischen Soloinstruments bleibt erhalten, während gleichzeitig die Plastizität des Klangs verstärkt wird.
Die Spielenden können während der Live-Performance den Klang jederzeit an die jeweilige akustische Situation anpassen, sei es im Konzertsaal, im Theater oder im Freien. Auch die Zusammenarbeit mit Ensembles verschiedener Stilrichtungen gelingt mühelos. Und zugleich kann die Y-Pipa die Klangfarben unterschiedlicher historischer Epochen neu entfalten. Das Instrument kann auch die Pipa-Klänge neutralisieren, sodass es nicht nur solo gut klingt, sondern auch andere Instrumente unterstützt.
Wellen – das unsichtbare Netzwerk der Klangübertragung
Klang ist physikalisch nichts anderes als Schwingungen der Luft. Sobald eine Saite gezupft wird, verwandelt sich ihre Energie über den hölzernen Resonanzkörper in fortlaufende Druckwellen der Luft. Wir nennen sie Schallwellen – ein zugleich physikalisches wie emotionales Phänomen: unsichtbar, unberührbar und doch füllen sie augenblicklich den Raum, dringen ins Ohr, ja bis ins Herz.
Schallwellen haben Periode, Frequenz und Amplitude. Die Frequenz bestimmt die Tonhöhe, die Amplitude die Lautstärke, die Wellenform prägt die Klangfarbe.
Die Saiten der Pipa erzeugen in der Flüchtigkeit eines Fingeranschlags ein komplexes Geflecht von Obertönen. Jede Welle breitet sich vom Anschlagspunkt in alle Richtungen aus. In der Y-Pipa wird diese Welle durch das elektrische Modul weitergeleitet, Frequenzen können angepasst und Klangfarben gezielt gestaltet werden.
Doch sobald sich der Klang in den Raum hinein entfaltet, ist er nicht mehr allein. Er trifft auf Wände, Kuppeln, Fenster und auf die Körper der Zuhörenden, wird reflektiert und gebrochen. Die Architektur des Raums wird zum «zweiten Instrument». Die Elektronik der Y-Pipa kann die zarten Wellenformen verstärken und in mächtigere Schwingungen verwandeln, sodass das «zweite Instrument» intensiver mitschwingt.
Klangfarben – die Qualitäten des einzelnen Tons
Unsere heutige Lebens- und Hörumgebung ist völlig anders als zur Entstehungszeit der traditionellen Instrumente. Aber die moderne Technologie ermöglicht uns neue Ausdrucksformen und zugleich ein Wiedererleben alter Klangwelten.
Die schweizerisch-chinesische Y-Pipa kann die Schichtungen einzelner Töne alter Pipa-Kompositionen besonders deutlich herausstellen. Ich selbst habe einst beim berühmten chinesischen Virtuosen Wang Fandi (1933–2017) die Kunst der Klangfarbenbildung studiert: wie man durch den Winkel des rechten Fingers am Saitenanschlag oder durch die Vibrato-Technik der linken Hand feinste Nuancen formen kann. Mit den erweiterten elektroakustischen Möglichkeiten lässt sich heute die Qualität eines einzelnen Tones noch intensiver entfalten: Die Differenzierungen werden klarer, die kulturphilosophische Tiefe präziser hörbar.
Musik – eine durch das Hören vollendete Kunst
In der musikalischen Praxis sind Aufführungsformat, Bühnenstruktur und Konzertsaalgrösse die äusseren Rahmenbedingungen. Ein Konzertsaal ist so neutral wie möglich gestaltet, wobei der Schwerpunkt auf einer optimalen Akustik liegt. Die Musizierenden bringen die Kunst der Musik zum Publikum. Innerhalb der Wände grosser und kleiner Räume oder jenseits von Mauern in der Natur, wo Umwelt, Pflanzen und Wind «mitspielen», schenkt sie den Künstlern, Künstlerinnen und dem Publikum intensive sensorische und spirituelle Erlebnisse.
Die Y-Pipa ist eine Frucht aus Jahrzehnten meiner Bühnenpraxis und Reflexion. Sie macht mich im Spiel wie in der Probe freier und glücklicher. Ob im KKL Luzern mit grossem Orchester oder im kleinen Zürcher Theater im Dialog mit einem Klavier: Die Y-Pipa bewahrt stets die klangliche Balance. Sie erweitert nicht nur die Ausdrucksmöglichkeiten der Pipa, sondern eröffnet auch Komponisten und Konzertveranstaltern neue Ideen und Arbeitsweisen. Damit ist die Y-Pipa nicht nur ein Werkzeug des Spiels, ein Instrument, sondern ein Medium von Raum und Zeit. Sie lässt die Schwingungen der Musik zwischen Gegenwart und Zukunft fortwährend weiterfliessen – reich an Schichten, Farben und Emotionen.
Konzerte vom 29. Oktober bis 2. November 2025 im Rahmen der «Tage für Musik zwischen den Welten – Loslassen» im Zürcher Theater Stok.
Wolfgang Böhler hat Yang Jing 2019 für die Schweizer Musikzeitung interviewt. Download PDF
