Open End in Luzern
Mit der Verabschiedung von Intendant Michael Haefliger ging am Lucerne Festival eine Ära zu Ende.

«Merci Michael!» steht auf dem grossen Banner, das am Ende des «Les Adieux» genannten Abschiedsfestes für Michael Haefliger im KKL entrollt wird. Dann unternimmt das von ihm 2003 gemeinsam mit Claudio Abbado gegründete Lucerne Festival Orchestra mit Johanna Malangré am Pult als Abschiedsgeschenk einen musikalischen Streifzug durch das Leben des scheidenden Intendanten, der das Lucerne Festival 26 Jahre geleitet hat. Da darf Notation 1 von Pierre Boulez, mit dem er 2004 die Lucerne Festival Academy für zeitgenössische Musik ins Leben rief, genauso wenig fehlen wie Anfang und Schluss von Bruckners Siebter und Mahlers Dritter – Abbados Sternstunden in der Festivalgeschichte. Die Schweizer Lieder Z’Basel an mym Rhy und Vo Luzern uf Wäggis zue erklingen im sinfonischen Hochglanzsound (Arrangement: Simon Nathan), ebenso die FC-Bayern-Hymne Immer vorwärts. Zuvor hat Graziella Contratto nach ihrer brillanten Laudatio bereits die Buchstaben von «Michael Merci» in Tonsilben übersetzt und gemeinsam mit dem Publikum angestimmt.

Inspiriert von Ludwig van Beethovens Sturm-Sonate, die Igor Levit zwischen Versenkung und Rausch verortet hat, vergleicht die Schweizer Dirigentin und Produzentin Michael Haefliger mit dem Zauberer Prospero aus Shakespeares gleichnamigem Drama. Er habe das Lucerne Festival zu einer magischen Insel gemacht und mit seinem Zauberspruch «jung, exzellent, innovativ» nicht nur Sponsoren angelockt (92 Prozent Eigenfinanzierung), sondern auch künstlerisch mit über 400 Uraufführungen und neuen Formaten frischen Wind gebracht. Von ihm regelrecht durchdeklinierte Festivalmottos wie «Diversity», «Diva» oder «Verrückt» hätten das Festival im Heute verankert. «Open End» lautet das Motto 2025 – die Übergabe an seinen Nachfolger Sebastian Nordmann ist hier schon vorbereitet.
Vertrautes immer wieder neu
Ein offenes Ende ist in den letzten Festivaltagen auch im Konzertprogramm der Münchner Philharmoniker wahrnehmbar, die unter der Leitung von Lahav Shani in Franz Schuberts Unvollendeter einen warmen Klang entwickeln. Die Ausladung des Orchesters und seines designierten israelischen Chefdirigenten durch das Flandern-Festival in Gent war in der Kulturszene auf viel Kritik gestossen, für Igor Levit ein Fall von «klassischem, ekelhaftem Antisemitismus und Feigheit». In Luzern sind diese Spannungen nicht zu spüren. Lahav Shani dirigiert ohne Stab und mit fliessenden Bewegungen, die in Ludwig van Beethovens Violinkonzert manches Mal auch zu kleineren Ungenauigkeiten im Zusammenspiel mit der souveränen Lisa Batiashvili führen. Die Solokadenzen von Alfred Schnittke geben dem vielgehörten Werk eine neue Farbe.
Auch Richard Wagners konzertanter Siegfried auf historischen Instrumenten unter Kent Nagano, ein Projekt der Dresdner Musikfestspiele, verbindet Vertrautes mit Neuem. Der Orchesterpart erhält eine selten gehörte Durchsichtigkeit, die die Sängerinnen und Sänger freier und ohne jede Forcierung agieren lässt. Nur im dritten Akt verliert das aus dem Dresdner Festspielorchester und dem Concerto Köln zusammengesetzte Orchester ein wenig an Qualität im Zusammenspiel und in der Intonation. Im ausgeglichenen Solistenensemble setzen Thomas Blondelle als beinahe schon lyrischer Siegfried, der auswendig singende Derek Welton als tragfähiger, geschmeidiger Wanderer, Asa Jäger (Brünnhilde) mit ihrem weit gespannten Sopran und Hanno Müller-Brachmann als markiger Fafner (mit Schalltrichter) besondere Akzente.
26 Jahre in einem Nachmittag
Michael Haefligers Innovationsfreude kann man auch sehen. Ein lila Ufo ist auf der Lidowiese am Verkehrshaus gelandet. Die Ark Nova, einen aufblasbaren Konzertsaal, hatte Haefliger gemeinsam mit dem Künstler Anish Kapoor und dem Architekten Arata Isozaki im Jahr 2013 für Fukushima entwickelt, um den tief verunsicherten Menschen in Japan nach der Atomkatastrophe einen Geborgenheit gebenden Raum für Musik zu schenken. Nun kann man diese «Klangskulptur» zum ersten und letzten Mal in Luzern erleben. Das zehntägige, musikalisch vielfältige Programm in der Ark Nova richtet sich an ein breites Publikum; 30 der 35 Konzerte sind ausverkauft. Bei den zwei besuchten Konzerten kommt man allerdings unter der akustisch schwammigen, traditionell bestuhlten Kunststoffhülle ins Schwitzen. Das Gebläse sorgt nicht für Kühlung, sondern hält nur die Hülle in Form. Die experimentelle Performance von Charlotte Hug (Viola und Stimme) und Lucas Niggli (Schlagzeug) hat Längen und zu starke dynamische Spitzen.

Da ist die digital-vokale Show von Winnie Huang (Visuals: Andreas Huck und Roland Nebe), die aus Zähneklappern und Augenzwinkern humorvolle Virtuosität kreiert, beim viereinhalbstündigen Abschied von Michael Haefliger um Längen origineller. Der übervolle Nachmittag wirkt wie ein Destillat seiner Arbeit, das jedoch durch die Länge wieder an Konzentration verliert. Riccardo Chailly, der tags zuvor mit dem Orchester und Chor der Mailänder Scala italienische Ouvertüren und Opernchöre zelebrierte, ist mit einer Rossini-Ouvertüre nochmals dabei. Neue Musik gibts mit Stefan Dohrs Uraufführung von Jüri Reinveres Nachtbild mit Blausternen für Horn solo, Dieter Ammans Violation (grossartig am Solocello: Maximilian Hornung) und Pierre Boulez‘ Initiale für sieben Blechbläser (Ensemble des Lucerne Festival Contemporary Orchestra). Mitglieder des West-Eastern Divan Ensemble spielen Fanny Mendelssohns Es-Dur-Streichquartett mit seltsamen Glissandi in der ersten Violine. Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta, die beide in jungen Jahren in Luzern den Credit Suisse Young Artist Award gewannen, bringen mit den brillant musizierten Valse bavaroise und Toccatina all’inglese auch zwei Werke von Jörg Widmann auf die Bühne, der 2026 in der Nachfolge von Wolfgang Rihm die Lucerne Festival Academy übernimmt. Open End in Luzern …