Die Sinnlichkeit ist zurück!

Entdeckungen am Laufmeter. Während fünf Tagen entfaltete das Musikfestival Bern unter dem Motto «Kette» eine grosse Sogwirkung.

Promenade durch die Räumlichkeiten des Progr in der Performance «Get well soon!». Foto: Annette Boutellier

Eines wurde an der diesjährigen Ausgabe des Musikfestivals Bern vom 3. bis 7. September schnell klar: Musik ist wieder sinnlich! Vorbei sind die Zeiten, in denen karge Klanglichkeit mit musikalischer Innovationskraft verwechselt wurde. Bereits das Eröffnungskonzert Liquid Room Nr. 11: Scattered Songs in der grossen Halle der Reitschule war ein Fest für die Sinne. Elf Musikerinnen und Musiker, in Ensembles im Raum verteilt, rückten während drei Stunden das Genre Lied in den Fokus, mit Musik von John Dowland (1562/63–1626) bis Leonie Strecker (*1995). Mittendrin: die diesjährige Komponistin in Residence, Svetlana Maraš (*1985), die mit elektronischen Improvisationen wohltuende Intermezzi kreierte. Perfekt kuratiert wurden die rund 30 gespielten Werke von Eva Reiter, Viola-da-Gamba-Spielerin des Ensembles in Residence Ictus.

Eva Reiter, Viola da Gamba, die Sängerin Mimi Doulton und der Gitarrist Tom Pauwels beim Eröffnungskonzert in der grossen Halle der Reitschule. Foto: Annette Boutellier

Zerbrechliche Klänge im Raum verstreut

War da gerade etwas? Nur wenige Sekunden dauert das Stück Cadillac für Solo-Gitarre des begnadeten Schweizer Komponisten Jürg Frey (*1953). Doch selbst dieser kurze Augenblick zeigt seine musikalische Könnerschaft. Jürg Frey war gleich mit mehreren Kompositionen an diesem Eröffnungsabend vertreten. Was für ein Geschenk! Mit einem unglaublichen Gespür für leise, zerbrechliche Klänge webt Frey eine feine Architektur von atemberaubender Schönheit. Im Programm waren auch einige seiner Lieder, die in grosser Flexibilität von der Sängerin Mimi Doulton interpretiert wurden – eine der grossen Entdeckungen des diesjährigen Festivals.

Vereinzelt gibt es sie noch immer: die Klänge, die sich am Ideal der Darmstädter Avantgarde der 1950er-Jahre orientieren. Präsent waren sie auch am Eröffnungskonzert, so etwa in der Komposition Mutation des griechischen Komponisten Panayiotis Kokoras (*1974) für Klarinette und Elektronik. Die 2015 entstandene Komposition wurde zwar brillant vom Klarinettisten Dirk Descheemaeker gespielt, wirkte aber ein wenig wie ein unbeholfener Versuch aus einem Tonstudio der 1960er-Jahre und in seiner Tonsprache bereits uralt, um Äonen älter als Franz Schuberts Lied Der Leiermann, das als Eröffnungsstück seine unzerstörbare Frische und Aktualität unter Beweis stellte.

Schmuckstücke

Einen Tag später funkelte und glänzte es im Schlachthaus Theater Bern. Das Musikfestival Bern ist bekannt für aussergewöhnliche Veranstaltungen. Unter dem Festivalmotto «Kette» liess es in der diesjährigen Ausgabe auch die Wissenschaft zu Wort kommen. Die Kunsthistorikerin Annette Kniep entfaltete ein aufschlussreiches Panorama zum Thema Prunkstücke über mehrere Jahrtausende. In ihrer Präsentation traten Geschmeide aus verschiedenen Zeiten in einen Dialog: Die Berner Patrizierinnen zeigten durch gediegene Bijous bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ihre Heiratsfähigkeit, Männer wiederum inszenierten durch Orden den Grad ihrer Macht. Und auch 300 Jahre später bleibt Schmuck ein Kommunikationsmittel. In der Hip-Hop-Szene sind Goldketten der sichtbare Beweis für Erfolg. Kurzum: Sich zu schmücken ist ein Urbedürfnis der Menschen und eine universale Konstante.

Béla Rothenbühler steuerte vielschichtige Texte bei, die von der Sängerin und Performance-Künstlerin Corina Schranz (*1987) kongenial in Musik gesetzt wurden: manchmal minimalistisch, aber immer sinnlich und klangschön.

Angekettet

Angst ist das grosse Thema der westlichen Welt, bis in die feinsten Verästelungen dargestellt in den Schriften von Søren Kierkegaard bis Jacques Lacan. Die performative Forschungsreise Get well soon!, die reizvoll und bildgewaltig durch verschiedene Räumlichkeiten des Progr führte, durchdrang in ihrer Auseinandersetzung mit der Problematik leider nur selten die Oberfläche und blieb in relativ banalen Klischees gefangen. Immerhin: Es gab während des einstündigen Rundgangs sehr stimmungsvolle musikalische Momente, insbesondere in der Interaktion von Flöte (Luca Höhmann) und Violoncello (Richard Ander-Donath).

Das Musikfestival Bern will mehr sein als «L’art pour l’art». Das Programm transportiert stets auch eine politische Botschaft. Durch das Festivalmotto «Kette» drängte sich eine Aufarbeitung der Sklaverei regelrecht auf. Das Vokalensemble tempo d’affetto stellte unter der Leitung von Moritz Achermann Musik des US-amerikanischen Komponisten und Jazz-Trompeters Jalalu-Kalvert Nelson (*1951) spanischen Renaissance-Werken gegenüber. Es gelang ein subtiles Changieren zwischen kolonialem Prunk und kolonialisiertem Leid. Der in Biel lebende Komponist schwarzer Hautfarbe rezitierte im Konzert sehr berührend Begriffe, Namen und Anrufungen in verschiedenen afrikanischen wie karibischen Sprachen und erinnerte dabei an seine Vorfahren.

Die Komponistin in Residence Svetlana Maraš kreierte im Chorraum des Berner Münsters mit ihren elektronischen Klängen eine tranceartige Atmosphäre. Foto: Annette Boutellier

Das Berner Münster bleibt als Spielort während des Musikfestivals unverzichtbar. Zu später Stunde wartete die Komponistin in Residence Svetlana Maraš mit einer tranceartigen Live-Performance im Chorraum des Sakralbaus auf. Der Sänger Andreas Schaerer interagierte dabei mit der Elektronik-Tüftlerin in sprach- und gesangsakrobatischer Virtuosität, das gesamte Spektrum der menschlichen Stimme auslotend. – Ach, wie sinnlich doch Neue Musik sein kann!

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