«Music as expression»

Ein Symposium der Berner Hochschule der Künste gab Einblick in die heutige Interpretationsforschung. Im Zentrum standen Werke Beethovens und ihre künstlerische Wiedergabe.

Beethoven in seinem Arbeitszimmer. Bild: Carl Schloesser, 1823?

«Rund um Beethoven» bewegte sich das Berner Symposium vom 13. bis zum 16. September 2017. Dabei bildeten nicht nur der etablierte Forschungsschwerpunkt Interpretation an der Hochschule der Künste Bern (HKB), sondern insbesondere drei aktuelle, vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Projekte Anlass und Rahmen für das viertägige Forum: Während im Projekt «Vom Vortrag zur Interpretation» die Wandlung der Interpretationspraxis am Beispiel der Solo-Klavierwerke Beethovens untersucht wird, stehen bei «Annotated Scores» die mit Notizen versehenen Dirigierpartituren und Orchestermaterialien jener Werke im Fokus, die für Richard Wagner in seiner Perspektive auf den Dirigenten wichtig waren. Ein drittes Forschungsprojekt, «Verkörperte Traditionen romantischer Musikpraxis», setzt sich mit instruktiven Notenausgaben des 19. Jahrhunderts in ihrer Beschreibung musikpraktischer Details auseinander und versucht diese mittels der «Embodiment»-Methode in die Gegenwart zu transferieren. Basierend auf diesem thematisch weitangelegten Feld standen Beethovens Werke und ihre interpretatorische Umsetzung zwar immer wieder im Mittelpunkt, zugleich wurden grundsätzliche Begrifflichkeiten und Methoden geklärt sowie Aspekte der Bearbeitung als Interpretation, organologische Fragen und nicht zuletzt musiktheatralische Elementen betrachtet. Insgesamt fünfundvierzig Vorträge bildeten so ein aufschlussreiches Ganzes – ergänzt von Concert Lectures und filmischen Dokumentationen, welche sich hervorragend in das Programm einfügten und zugleich darüber hinauswiesen.

«Die wahre Reproduktion ist die Röntgenfotografie des Werkes. Ihre Aufgabe ist es, alle Relationen, Momente des Zusammenhangs, Kontrasts, der Konstruktion, die unter der Oberfläche des sinnlichen Klanges verborgen liegen, sichtbar zu machen – und zwar vermöge der Artikulation eben der sinnlichen Erscheinung.» – Mit diesen Worten Theodor W. Adornos begrüsste Thomas Gartmann, Leiter der Forschungsabteilung der HKB sowie der Berner Graduate School of the Arts die Musikwissenschaftler, die Musiker und Zuhörer im Konzertsaal der Hochschule.
 

Interpretation und Tradition

Ganz im Zeichen der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts stand sodann die Folge der ersten fünf Vorträge – gemeinsam mit der Frage: «Was heisst Interpretation, was kann Interpretation leisten?» Dass sich Interpretation nicht nur im Spannungsfeld zwischen Notentext und Aufführung bewegt, sondern auch «kreatives» Aufführen von Musik vom reinen Interpretieren unterschieden werden sollte, zeigte John Rink (Cambridge) u. a. anhand von notationsspezifischen Eigenheiten bei Chopins Klavierwerken. Denn trotz dieser hochspezifischen, ja zum Teil idiosynkratischen Notationsweise sollte der Chopin-Interpret, so Rink, seinen eigenen Einfallsreichtum nicht zu kurz kommen lassen – nur so kämen interessante, aber auch fragliche und damit diskussionswürdige Interpretationen zustande. Dem musikalischen Ausdruck jenseits des Notentextes widmeten sich auch die beiden folgenden Präsentationen von Carolina Estrada Bascunana (Tokio) und Manuel Bärtsch (Bern). Sowohl im Falle der Schülerschaft Enrique Granados‘ als auch bei verschiedenen Interpretationen von Beethovens op. 111 erwies sich quellenkritische Arbeit mit verschiedenen Editionen, pädagogischen Handleitungen und Aufzeichnungssystemen wie den Welte-Klavierrollen als unabdingbar, um dem individuellen Interpreten nahe zu kommen und seine Spielweise in eine eventuelle Tradition stellen zu können. Beiden Vorträgen gemeinsam war die kritische Perspektive auf den «heiligen Interpreten, welcher sich in einem auratischen, metaphysischen Kontext bewege» (Bärtsch) – eine Auffassung, die revidiert werden solle. Während sich Georges Starobinski (Basel) u. a. ebenfalls der letzten Sonate op. 111 widmete und sich in einer feinen und detaillierten Darstellung mit der Vortragsbezeichnung «semplice» bei Beethoven auseinandersetzte, standen bei Kai Köpp (Bern) die methodischen Ansätze zur Interpretationsforschung im Zentrum. Die vielfältigen Quellengattungen (user interfaces aus der Organologie, Instruktionen, Tondokumente und Bewegte Bilder), die in den unterschiedlichen Forschungsprojekten der HKB untersucht wurden, boten hierbei reiches Anschauungsmaterial für eine Verortung der Historischen Interpretationsforschung zwischen historischer und systematischer Musikwissenschaft.

Wende zur Moderne

Den Schritt ins 20. Jahrhundert wagte László Stachó (Budapest), indem er Aufnahmen von in der Liszt-Tradition stehenden Pianisten wie Eugen d’Albert, Béla Bartók und Ernő Dohnányi mit solchen von Igor Strawinsky verglich und ihre Interpretationen zwischen sprachgebundener und eher metrisch-strukturalistischer Herangehensweise positionierte. Dass Igor Strawinsky dieser objektiven, gerade für die Zeit zwischen den Kriegen charakteristischen Musizierhaltung am ehesten entsprach, liess sich den Tondokumenten deutlich entnehmen. Stachó beliess seine Ausführungen jedoch nicht bei blosser Analyse der Interpretationen, er zog zudem die Verbindung von der beobachteten modernistischen Ästhetik zur «Musik als einem räumlich ausgedehnten Gegenstand»: Dem Interpreten obliege es, zwischen Zeit und Raum zu vermitteln und sich für ein weit oder enger strukturiertes Spiel zu entscheiden. Nach einem weiteren Beitrag, welcher die Musik Anton Weberns aus der Sicht von Tempogestaltung und Intonationsfragen beleuchtete, durfte man der Concert Lecture Robert Levins (Boston) als einem der Höhepunkte des Symposiums beiwohnen. Unter dem Titel «Wende zur Moderne. Beethoven als Vollstrecker C. Ph. E. Bachs» zeigte sich der weltbekannte Pianist und Musikwissenschaftler in musikalischem wie sprachlichem Vortrag eloquent, intensiv und unmittelbar. Ausgehend von der Aufführung einiger Klavier-Fantasien von Carl Philipp Emanuel Bach demonstrierte er deren Einfluss auf Komponisten wie Haydn, Mozart und Beethoven. Allein die von Levin gelebte Synthese aus Praxis und Reflexion war hierbei höchst eindrücklich. Ganz wörtlich nahm der Künstler aber die «Wende zur Moderne», als er sich, explizit an die jungen Teilnehmer und Zuhörer gewandt, für ein Engagement im Bereich der Neuen Musik aussprach. Denn sich als Interpret für die Aufführung von neuem Repertoire einzusetzen, bedeute, an der Musikgeschichtsschreibung Anteil zu nehmen.

Notation und Aufführung

Sich den komplexen Beziehungen zwischen Werk, Komponist und Interpret zu nähern, insbesondere wenn die Werkentstehung Jahrzehnte zurückliegt, bedarf selbstverständlich gewissenhafter methodischer Arbeit. So stand auch am zweiten Tag des Symposiums vorerst die Vielfalt dieser Methoden im Mittelpunkt. Clive Brown (Leeds) thematisierte die Kluft zwischen einer praxisorientierten Forschung und dem professionellen Musizieren: Viele der heutigen kommerziellen Tonaufnahmen würden von wenig Verständnis für das Verhältnis zwischen Notation und Aufführung zeugen, wie dieses im 18. und 19. Jahrhundert von Komponist und Interpret gesehen wurde. Ausgehend von einem seiner Spezialgebiete, Interpretationsforschung im Bereich der Streichinstrumente, zeigte Brown, wie er sich die Überbrückung dieser Kluft mittels historisch informierter Editionen sowie Vermittlung historischer Spieltechniken vorstellte. Wie informativ dabei ein Vergleich zwischen einer überlieferten Tonaufnahme und der Edition des eingespielten Werkes sein kann, demonstrierte auch Neal Peres da Costa (Sydney) – ausgiebig – am Klavier innerhalb seines Vortrages. Seine Methode des Nachahmens historischer Klangdokumente vermochte gerade improvisatorische Elemente und rhythmische Freiheiten deutlich zu machen, die Teil von Carl Reineckes oder Jan Ladislav Dusseks Spiel waren – freilich, ohne dass damals etwas davon im Notentext zu lesen gewesen wäre. Erneut um die wissenschaftliche und ästhetische Bedeutung von Klavierrollen ging es in der Präsentation von Sebastian Bausch (Bern), allerdings unter dem speziellen Gesichtspunkt der Oral History, der Befragung von Spezialisten im Bereich der Reproduktionsklaviere und deren angemessener Regulierung. Abgerundet wurde dieses grosse Kapitel durch einen Vortrag von Olivier Senn, welcher eine neue Methode der computergestützten Messung von Agogik vorstellte – und sich damit mit einem feinen interpretatorischen Detail auseinandersetzte, das jedoch epochen- und stilübergeifend relevant war und ist. Wie sich eine Tempoverlaufskurve aus musikalisch expressiver Zeitgestaltung ableiten lässt, demonstrierte er am Beispiel von Debussys Aufnahme der Danseuses de Delphes aus dem Jahr 1912.

Sprechende Bearbeitungen

«Ich habe eine einzige Sonate von mir in ein Quartett für Geigeninstrumente verwandelt […], und ich weiss gewiss, das macht mir nicht so leicht ein andrer nach.» Mit Beethovens eigenen Worten wurde der Block «Bearbeitung als Interpretation» eingeleitet. Thomas Gartmann widmete Beethovens eigener Quartettbearbeitung seiner Klaviersonate op. 14 Nr. 1 eine detaillierte Analyse von Stimmführung, Dynamik und Artikulation und wies auf den wissenschaftlichen Wert dieser Bearbeitung hin. Auf ein zentrales, aber bis jetzt wenig erforschtes Verbreitungsmedium des 18. bis 20. Jahrhunderts machte Michael Lehner (Bern) aufmerksam. Die Kulturtechnik des Partiturspiels wurde als eine «Interpretation durch Reduktion» untersucht, insbesondere anhand der Einspielungen, die Gustav Mahler und Richard Strauss von ihren eigenen Orchesterwerken vornahmen. Welche Rückschlüsse können aus Phrasierung, Tempogestaltung und Rhythmik im Hinblick auf die Orchesterversion gezogen werden?

Hieran schloss sich hervorragend die Concert Lecture von Ivo Haag und Adrienne Soós (Luzern) an: Wie die Klavierauszüge waren auch die vierhändigen Bearbeitungen von Orchesterwerken ein probates Mittel, die eigenen Kompositionen publik zu machen. Das Klavierduo stellte an diesem Nachmittag die Arrangements von Brahms‘ Sinfonien in den Mittelpunkt von aufführungspraktischen Fragen. Nachdem an diesem Abend das Forum für den forschungsinteressierten Nachwuchs in kleinen Präsentationen zu verschiedensten Themen geöffnet wurde, hielt man gar einen kleinen Meisterkurs ab: Die Spezialisten der Interpretationsforschung nahmen sich des Cellisten David Eggert (Bern) und der Pianistin Gili Loftus (Montréal) an, welche – selbstverständlich bei einem Beethoven-Symposium – Werke des Komponisten spielten, jedoch im Spiegel der Zeit um Clara Schumann und der damals herrschenden Aufführungspraxis.

Am thematischen Randbereich und doch viel näher an unserer Zeit befand sich der dritte Tag des Symposiums. Die Referenten um Leo Dick (Bern) präsentierten die Ergebnisse ihrer Forschungen im musiktheatralischen, choreografisch-tänzerischen und literaturwissenschaftlichen Bereich. Der daraus entstehende Perspektivwechsel auf Werk und Person Beethovens erwies sich dabei als genauso spannend und informativ wie der übergeordnete Begriff der «Mise en scène als Interpretation» in ihrer verschiedenartigen und transdisziplinären Ausformung.
 

Die Rolle der Instrumente

Verschiedene Experten auf dem Gebiet der Organologie, der Instrumentenkunde, führten die Teilnehmer wieder zurück in Beethovens Zeit und zu den Errungenschaften des damaligen Klavierbaus. Einen Überblick über die Bautraditionen in den Zentren Wien, Paris und London lieferte hierbei Giovanni Paolo Di Stefano (Amsterdam). Ein nicht direkt mit Beethoven assoziiertes Instrument, die Orgel, brachte Stefano Molardi (Lugano) ins Spiel. Den frühen, organistischen Ausbildungsjahren des Komponisten spürte er durch Analysen späterer Werke nach – die pianistische Imitation beispielsweise des Fauxbourdon oder der Imitatio Tremula Organi stellen laut Molardi wichtige Indizien dar. Auf ein instrumentenbauliches und zugleich musikalisches Detail verwies Martin Skamletz (Bern): In den Jahren nach 1800 erweiterte sich der ursprünglich fünf Oktaven fassende Umfang der Klaviere, was sich natürlich auf die Disposition der komponierten Werke auswirkte. Diese gegenseitige Relation illustrierte Skamletz mit einer Vielzahl an Notenbeispielen und stellte sie in den Kontext des Zeitgeschehens. Ebenfalls differenzierte Quellenarbeit leistete Patrick Jüdt (Bern) im Kontext des Streichquartetts op. 18/6. In einem anschaulichen Vortrag, in welchem die vier jungen Musiker des Quatuor Ernest genauso wie die Zuhörerschaft an die Hand genommen wurden, erarbeitete er Dynamik und Intensität beethovenscher Sforzati im Scherzo aus op. 18/6. «Mitspracherecht» erhielten dabei Musiktheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts in ihren Äusserungen zu metrischem und melodischem Akzent.

Schreibprozesse und Ergebnisse der Verschriftlichung wurden am letzten Tag, dem 16. September, behandelt. Federica Rovelli (Bonn) berichtete von den Hindernissen, welche die Edition beethovenscher Skizzenbücher beeinflussen können: Neben dem meist fragmentarischen Zustand der Skizzen ist es vordergründig die Zeitlichkeit des Schreibens, die Chronologie des Schreibprozesses, welche in einer einfachen Transkription nicht darzustellen sei; sehr wohl kann Geschriebenes dargestellt werden, nicht jedoch das Schreiben selbst. In Auseinandersetzung mit diesem Problem stellte Rovelli eine im Beethoven-Haus in Bonn verwendete Software vor, die verschiedene Schreibschichten eines Faksimiles offenlegt. Durch die Transparenz und visuelle Erfassbarkeit wird dieses grafische Programm von einem internationalen Kreis für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen sein.
 

Aufführungspraxis und Werktreue

Einmal nicht im Dienste der Textkritik, sondern zur Nachzeichnung einer aufführungspraktischen Entwicklungsgeschichte standen bei Johannes Gebauer (Bern) editionsphilologische Untersuchungen. In detailgenauer Arbeit verglich er unterschiedliche Ausgaben u. a. der Capricen von Pierre Rode, deren Eigenheiten, Zusätze und Änderungen nicht nur Hinweise auf bestimmte Spieltraditionen geben, sondern uns auch den Herausgebern der jeweiligen Editionen näherbringen können.

Das Berner Forschungsprojekt «Annotated Scores», Richard Wagners Perspektive auf Eigenheiten in Werken seiner Zeit, bestimmte die letzten Präsentationen des Symposiums. Chris Walton (Bern) beleuchtete Wagners Aufführung von Beethovens Neunter Sinfonie im Jahr 1846 und die zahlreichen Änderungsvorschläge, die von ihm gemacht wurden. Dass, wie aktuellsten Forschungen in Bern zeigen, Wagner diesen eigenen Änderungen selbst nicht zur Gänze umsetzte, hinderte viele spätere Dirigenten nicht daran, Wagners Angaben als Massstab zu sehen. Ein ganz vergleichbares Phänomen in der Beethoven-Rezeption behandelte Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel): 1904 führte Gustav Mahler Fidelio, die einzige vollendete Oper Beethovens auf – in einer von ihm umgestalteten Version, welche vom Wiener Publikum auch dann noch als die wahre gesehen wurde, als Felix Weingartner die Nachfolge Mahlers antrat und sich für mehr Werktreue bei Fidelio einsetzte.

Einen runden Abschluss erfuhr das viertägige Symposium durch Roger Allen (Oxford), der über Wagners Interpretation von Beethovens Klaviersonate op. 101 referierte. Den ersten Satz dieser Sonate charakterisierte Wagner als ein perfektes Beispiel für den von ihm geprägten Ausdruck der «Unendlichen Melodie», auch im Hinblick auf die fehlenden stark kadenzierenden Einschnitte. Betont spekulativ zog Allen Querverbindungen von Beethovens Werk zu Wagners Vorspiel zu Tristan und Isolde und deckte vergleichend mögliche kompositorische Einflüsse aus der Klaviersonate auf. Auch den Bogen zu den vergangenen Tagen spannte Allen, wenn er Wagner zu Beethoven zitierte: Jener habe in dieser Sonate «dem ureigensten Wesen der Musik» nachgespürt. In Allens eigenen Worten: Es gehe, auch während des Berner Symposiums, um «Music as expression», um Musik in ihrem Vermögen, auszudrücken und Eindruck zu hinterlassen.
 

Das könnte Sie auch interessieren