Der weisse Turm über Mulegns
Es hat die Bündner Kulturlandschaft nachhaltig verändert. Nun feiert das Festival Origen seinen 20. Geburtstag – mit einem spektakulären Bauwerk.

Der weisse Turm ragt über dem Wenige-Seelen-Dorf Mulegns auf: neueste 3-D-Technologie mitten in einem engen Bergtal, in Erinnerung an alte Bündner Tradition, nämlich in Zuckerbäckermanier. Innovation also und Vergangenheit in einem, identitätsstiftend – und zudem völlig anders als das, was sonst in der Kultur- und Musikszene angesagt ist. Die Tor alva, eingeweiht just zum 20. Geburtstag des Festivals Origen, ist ein starkes Symbol.
Die Anfänge dieses Festivals liegen fast schon ein wenig in der Vergessenheit, dabei waren auch sie schon spektakulär. Giovanni Netzer, Initiator und bis heute Spiritus Rector von Origen, hatte die alte Burg im Dörfchen Riom, hoch am Eingang des Surses, bühnentauglich gemacht. Dort führte er Musiktheaterstücke auf, die oft von biblischen Themen inspiriert waren, diese aber neu dachten und, mit einer durchs Land ziehenden Commedia-Truppe, auch persiflierten. Es war nicht das urbane, oft hyperaktive Theater der grossen städtischen Bühnen, sondern eine verhaltene, manchmal fast statische, aufs Erste etwas altertümlich wirkende Repräsentation, geprägt vom Ambiente der Aufführungsorte.
Die Geschichten der Heimkehrer
Auf solche Eigenheiten nämlich setzte Netzer. Zum einen personell: Um ihn herum entstand bald eine künstlerische Familie, etwa mit dem Geschäftsführer Philipp Bühler, der seit Jahren hinter den Kulissen wirkt, mit dem Dirigenten Clau Scherrer, der dank seinem Vokalensemble vielen Aufführungen musikalisch den Stempel aufdrückte, schliesslich mit den farben-, gold- und blumenreichen Kostümen und textilen Ausstattungen: Martin Leuthold, Stoffdesigner und einst Art Director der Firma Schläpfer in St. Gallen, gestaltet sie; im Atelier von Lucia Netzer in Riom werden sie geschneidert und fertiggestellt.

Zum anderen stellte Origen die Besonderheiten des Tals und der Region in den Mittelpunkt: die vorhandenen Baudenkmäler, die alten Kirchen, Häuser und Hotels, die Landschaft, die Persönlichkeiten, die hier lebten oder die vorbeikamen, schliesslich die Bündner Geschichte. Allmählich verschob sich die Thematik hin zum Regionalen. Ins Zentrum rückte vor allem ein Stoff: jene Bündner, die seit dem 15. Jahrhundert abwanderten, um in der Fremde ihr Glück zu suchen. Vor allem als Zuckerbäcker waren sie in der ganzen Welt erfolgreich. Reich geworden kehrten einige wenige heim und liessen sich Villen erbauen. Giovanni Netzer, der, in Savognin aufgewachsen, nach dem Studium heimkehrte, holt diese Geschichten hervor, er erzählt sie auf immer neue Weise, nicht nur in Theater- und Tanzstücken, sondern auch in den Bauten.
Die Region behält ihr Gesicht
Architektur nämlich nimmt bei Origen längst einen zentralen Platz ein. Nach der alten Burg wurde in Riom auch die Villa des in Paris erfolgreichen Zuckerbäckers Carisch restauriert, die danebengelegene Scheune, die Clavadeira, wurde zum wintertauglichen Theatersaal umgebaut. Am Silvaplanersee und auf der Marmorera-Staumauer entstanden provisorische Theatergehäuse, ebenso auf dem Julierpass, wo später jener spektakuläre rote Turm folgte, der über sechs Jahre hinweg bespielt wurde. Er wurde zu einem Wahrzeichen der Region.

Schliesslich – das Schweizer Fernsehen hat ausführlich darüber berichtet – wurde in Mulegns die weisse Villa um acht Meter verschoben: Alte Bausubstanz blieb so erhalten, aber der starke Transitverkehr über den Julier kann nun problemlos passieren. Auch das nebenan in den 1830er Jahren errichtete Hotel Löwe wurde renoviert, in dem einst königliche Hoheiten, Nobelpreisträger und Schriftsteller weilten. Das Festival Origen wurde so für viele zum Vorbild im Umgang mit regionalen Ressourcen.
Der Zuckerbäckerturm aus dem Drucker
Manch einer wird damals schon gedacht haben, jetzt sei es genug, und Origen habe wohl seinen Höhepunkt erreicht. Aber das Festival überraschte mittlerweile nochmals mit einem Coup: Zusammen mit der ETH kündigte es den Bau eines dreissig Meter hohen weissen Turms an, der in einem 3-D-Drucker wie mit einem Spritzsack stückweise gespritzt und dann vor Ort zusammengefügt wurde. Im Mai wurde er offiziell eingeweiht, dieser derzeit weltweit höchste 3-D-Bau. Ein Husarenstück fürwahr, auch ästhetisch. Denn wo sonst gibt es einen solchen Zuckerbäckerturm, bei dem man den Schlagrahm förmlich zwischen den Schichten hervorquellen sieht? Bei manchen wird das wohl wie alle Patisserie unter Kitschverdacht geraten, aber in dieser historischen Landschaft ist der Turm absolut stimmig. (Haben nicht auch manche Bauten Gaudís etwas Süssliches an sich?) Wer hinaufsteigt, erlebt nicht nur eine wunderbare Aussicht, sondern spürt die einzigartige Materialität des Bauwerks. Märchenhaft – und mutig zugleich. Fünf Jahre soll er dort stehen bleiben.

«Märchen» lautet heuer auch Origens Motto. Vor dem Turm ist das Tanzstück La Torre zu sehen, in dem Netzer Calderóns Klassiker Das Leben ein Traum in eine Zuckerbäckerfamilie transferiert. Der Turm bildet dafür in der Dämmerung nicht nur eine grandiose Kulisse, sondern wird auch szenisch einbezogen. Im alten Speisesaal des Hotels Löwe ist eine eigenwillige Version der Zauberflöte zu erleben. Hinzu kommen mehrere hochstehende Ballettchoreografien, Ausstellungen, Führungen, gregorianische Gesänge in der Früh oder zur Komplet in uralten Kirchen und natürlich weiterhin die Commedia-Truppe, die von einem Bergbauernkind erzählt: Es schweift durch die Welt, bis es vom Heimweh gepackt wird. Origen bleibt sich auch hier treu. Wir sind gespannt, womit es uns demnächst überrascht.