Technologie und historisches Bewusstsein

Vom 30. November bis 2. Dezember letzten Jahres wurden an einer internationalen Tagung der Forschungsabteilung der Hochschule der Künste Bern (HKB) viele Fragen zur Klangästhetik in der Popmusik diskutiert.

Bruno Spoerri. Foto: Daniel Allenbach/HKB

Das engagierte Team rund um die beiden Initianten Immanuel Brockhaus und Thomas Burkhalter empfing die Gäste mit einem dichten Programm, das die Aufmerksamkeit zu überreizen drohte. Eröffnet wurde das Symposium durch Peter Kraut, stellvertretender Leiter Fachbereich Musik der HKB, gefolgt von Thomas Gartmann, Leiter Forschung HKB. Letzterer umriss das Profil der Gastgeber-Hochschule. Der strategische Wechsel von der historisch informierten Aufführungspraxis hin zu den neuen Medien habe sich angebahnt. Die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Lehre sei heute zentral. Unter dem Label «Arts in Context» finde sich der aktuellste Forschungsgegenstand: die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Schnittstellen in dieser Verständigung sind die sogenannten Interfaces, die über die gesamte Dauer des Symposiums immer wieder zur Sprache kommen sollten.

Gestisches Musizieren

Das erste Referat wurde dem Schweizer Jazzmusiker und Elektronikpionier Bruno Spoerri überlassen. Eine gute Wahl. Spoerris reicher Erfahrungsschatz machte gewissermassen den roten Faden des Symposiums aus und liess auch die eine oder andere Anekdote aus den «Anfängen» aufleuchten. «Sound» betrachtet er als grössten Wiedererkennungsparameter und somit als genrebildend. Er erinnerte an die ersten elektronischen Instrumente wie die Ondes Martenot. Dies gelang ihm, ohne dabei in Nostalgie zu verharren. Kritisch beleuchtete er die Einführung des Midi-Standards von 1984. Diesen bezeichnete er als Zementierung und nachhaltige Ausrichtung auf Klaviatur-Interfaces. Er forderte mehr Freiheit für Spontaneität im Übergang vom Computer zur Musik, eine Verabschiedung der Kultsounds und eine Rückbesinnung auf Stockhausen. Die Forschung sei aber auf gutem Wege: Das Musizieren mit Gesten werde zunehmend wieder ermöglicht und sein Wunsch-Interface, bei dem ein Sound bloss noch gedacht werden müsste, sei vielleicht nicht mehr länger Utopie. Das gestische Musizieren war auch das Hauptanliegen von Werner Jauk (Graz). Interfaces sollen den Sound über den Körper formen können. Jauk geht dabei noch einen Schritt weiter und möchte selbst die Körperspannung erfasst wissen. Körperinformationen betrachtet er im Hinblick auf Sound als konstitutiv.

Virtuelles Altern

Dass der Midi-Standard diesen Forderungen nicht länger gerecht werden kann, fand breite Akzeptanz. In diese Lücke sprang der Ingenieur Lippold Haken und liess seinen Continuum Controller durch den damit vertrauten und brillierenden Musiker Edmund Eagan präsentieren. Dieser Controller verlässt den kritisierten Standard und ermöglicht das Erfassen einer unvergleichlichen Fülle von Parametern. Die Eingabe erfolgt mit den Fingern über eine stufenlose Touch-Oberfläche. Laut dem Entwickler ist ein industrieller Durchbruch dieser Technik bislang jedoch nicht in Sicht. Nach wie vor sei es schwierig, Investoren ausserhalb des sich hartnäckig haltenden Midi-Standards zu finden. Die Resultate der performativen Vorführung waren auf jeden Fall beeindruckend. Die Bedienung dieser Oberfläche scheint aber in der Komplexität mit dem Erlernen des Geigenspiels vergleichbar zu sein. Ob der von Imogen Heap formulierte und durch Katia Isakoff (London) zitierte Wunsch nach Freiheit anstelle von Kontrolle dadurch erfüllt werden kann, sei dahingestellt. Dass junge Leute vermehrt wieder taktile Controller bedienen möchten, war auch Fazit der Forschungsarbeiten von Jack Davenport (University of Central Lancashire). Sein extrem simplifiziertes «playful musical interface» wurde vom Publikum jedoch kritisch hinterfragt. Nicht zum ersten Mal wurden Bedenken über eine sich einschleichende «Faulheit» bei der Produktion von «Musik» geäussert. Dem fehlenden persönlichen Bezug zu Musikinstrumenten ausserhalb der taktilen Bedienung begegnet die durch Brockhaus initiierte Forschungsarbeit V:Age zum Thema «virtual aging» auf neue Weise: Die beiden Game-Designer Ruben Brockhaus und Brett Ayo (Berlin/Bern) entwickeln zurzeit ein virtuelles Instrument, das die Fähigkeit haben soll, zu altern. Auf der visuellen Ebene soll es künftig gleichermassen wie auf der funktionalen und audiophilen einen benutzungsbedingten Alterungsprozess geben.

Einschränkungen durch die Maschine?

Die Tagung machte keinen Hehl daraus: Wir sind im digitalen Zeitalter angekommen. Die Möglichkeiten scheinen unendlich zu sein und die Maschinen sind kaum mehr an ihre Grenzen zu bringen. Über die Auswirkungen dieser Tatsachen im Hinblick auf das Kreieren von Musik, den letztlich kreativen Prozess, herrschte Uneinigkeit. Während Wayne Marshall (Berklee College of Music/Harvard, Boston) der Einschränkung durch die Maschinenlogik gelassen entgegensieht, Fereydoun Pelarek (Macquarie University, Sydney) sogar von kreativer Freiheit durch unlimitierte Möglichkeiten sprach und der Aspekt des Handlichen mehrfach ernsthaft ausgeführt wurde, gab es Gegenstimmen. Der Technoproduzent Georgi Tomov Georgiev (Berlin) erinnerte an die kreative Kraft der Einschränkung. Jeff Mills zitierend sprach er im Hinblick auf die Gegenwart von Sklaven der Computer. Jauk bedachte, der materielle Körper werde zunehmend funktionslos. Das Problem der «Entscheidungen» wurde von Jan Herbst (Bielefeld) in seiner Arbeit «old guitars with new technologies» ins Feld geführt. Er untersuchte die Technologie des «Profiling». Ein Verfahren, das klangliche Eigenschaften von Gitarrenverstärkern und deren Mikrofonierung ausmisst und entsprechend wiedergeben soll. Was ohne diese Möglichkeit in einem Frühstadium der Produktion entschieden werden muss, bleibt nun bis zum letzten Augenblick offene Option. Eine Überforderung der Maschine bleibt ausgeschlossen, damit einhergehend auch die zufällige Entdeckung.

Skulpturale Gestaltung

Der digital/analog-Diskurs fand seine Pole in den Ausführungen von Katia Isakoff und Holger Lund (Berlin/Ravensburg). Die Komponistin Isakoff setzte sich performativ mit dem von der Firma Moog auf den Markt gebrachten Theremini auseinander, eine digitale und handliche Anlehnung an das legendäre Theremin. Zu ihrer Verteidigung ist zu erwähnen, dass sie eine rührende Aufarbeitung der persönlichen Beziehung zwischen der Theremin-Virtuosin Clara Rockmore und dem Erfinder des Instrumentes Leon Theremin als humanistischen Zugang zur Maschine und deren Innovation darbot. Dennoch sprach Isakoff aus, was im Kanon umschrieben wurde: «The gap is closing.» Es seien ohnehin nicht die Instrumente, sondern die Menschen, welche die Musik machten, zitierte sie Max Rudolph. Dazu später mehr. Widerspruch dazu gab es jedenfalls kaum. Dies änderte sich mit dem Beitrag von Lund radikal. Von einem postdigitalen Phänomen und der damit einhergehenden Re-Analogisierung war in seinem Vortrag «Neue Soundästhetik durch postproduktives Mastering und Vinylcut» zu vernehmen. Ein massgebender Einfluss auf das Endprodukt in der Studiokunst durch analoge Verfahren und entsprechendes Handwerk sei auszumachen. Die Soundpräsenz werde mit Hilfe von Verzerrung skulptural gestaltet. Auf die Frage, ob diese audiophile Auseinandersetzung überhaupt im hörbaren Bereich stattfinde, antwortete er für die aktuelle Musikindustrie vernichtend: Die Unterschiede seien markant, die Frage sei nur, ob wir diese noch wahrnehmen könnten. Unsere Hörgewohnheiten seien durch die Omnipräsenz der Digitalisierung und die damit verbundenen mobilen Abspielgeräte bereits geschreddert. Lund hat in Interviews mit den entsprechenden Mastering-Künstlern erfahren, dass nicht länger die Transparenz die Ästhetik der Zukunft sein werde, vielmehr gehe es um eine Kolorierung und Herausarbeitung eines individuellen «Sonic Stamp».

Was bedeutet «Zukunft»?

Eine Definition, worüber auf diesem Symposium debattiert wurde, liess lange auf sich warten. Zwar herrschte über den Begriff «Sound» und dessen adäquate Übersetzung in «Klang» Einigkeit; was der Begriff «future» meint, wurde jedoch erst mit dem Beitrag der Philosophin Robin James (UNC Charlotte) zur Sprache gebracht. Galt in der Moderne noch das Neue und die Innovation als Inbegriff für die Zukunft, habe sich dies im Neo-Liberalismus dramatisch verändert. Spekulation und Investition definierten nun die Zukunft. James spricht von der Zukunft als einer Folge des Erfolgs. Für die Musik bedeute dies einen Verlust der Narration. Die dramaturgische Gestaltung erfahre eine radikale Veränderung. Im Ringen um die Aufmerksamkeit erscheine beispielsweise der Höhepunkt gleich zu Beginn. Der unerlässliche Kampf um Erfolg manifestiere sich schleichend auch in unserem Körper. Dieser werde zunehmend als Investitionsobjekt betrachtet. Investieren bedeute immer auch, Risiko auf sich zu nehmen. Für die Industrie gelte es, diese Risiken abzuwägen. Aufschwingende Investitionsgüter seien dabei dem Phänomen der «gentrification» ausgesetzt. An diesem Punkt bringt James die brisante Genderfrage auf das Podium. Die Investition in den weiblichen Körper schreibt sie genau diesem Phänomen zu: «Investment in the female body is the human gentrification». Dieselbe Problematik führt Marie Thompson (University of Lincoln) ins Feld. In ihrem Vortrag präsentierte sie eine Reihe von Geräten, mit deren Hilfe pränatale Musikbeschallung bei schwangeren Frauen ermöglicht werde. Die Investition in das ungeborene Kind soll dieses für die erfolgsorientierte Gesellschaft optimal vorbereiten. Eine entsprechende Babyplaylist ist selbstverständlich bereits zusammengestellt. Die Spitze der Hochkultur präsentiert sich im Kanon von Mozart bis Queen. Eine Analyse, welche Musik zu welchem pränatalen «Lernverhalten» stimuliert, wird gleich mitgeliefert. Produktion und Reproduktion betrachtet Thompson als massgebend für den Kapitalismus. Die Produktion ohne Reproduktion beschreibt sie als Idealfall in diesem System. Ein Gedankengang, der in der Anwendung auf den weiblichen Körper verheerendes Ausmass annehmen kann. Sie appelliert an eine neue Aufmerksamkeit. Dabei sollen nicht die Produkte und ihre Prozesse, sondern die Rahmenbedingungen, in denen diese entstehen, fokussiert werden. Annie Goh (Goldsmith University of London) knüpfte daran an und analysierte das japanische Massenphänomen «Hatsune Miku». Virtuelle weibliche Popstars werden von Usern der entsprechenden Online-Plattform programmiert und vermarktet. Diese «crowdsourced creativity» führe zum Tod des Autors und somit zum Tod der Realität. Zentrales Anliegen von Thompsons Analyse ist der Einsatz der virtuellen Stimme der Frau. Hier zieht sie Parallelen zur westlichen Welt. Die virtuelle Frauenstimme im öffentlichen Raum ist bereits omnipräsent. Die Frage ist nicht nur, wie diese in Zukunft eingesetzt wird, vielmehr wird entscheidend sein, wer darüber bestimmt. Die Technologisierung der Stimme der Frau könnte demnach eine wichtige Rolle in der Genderdebatte der Zukunft darstellen.

Lernende Maschinen

Die Virtualisierung war ebenfalls Gegenstand des hoch spannenden Beitrags der beiden Medienkünstler Michael Harenberg und Daniel Weissberg (Bern). Sie verwiesen auf das Problem «Big Data». Der computergestützte Umgang mit Unmengen von Daten ermöglicht eine Durchleuchtung des menschlichen Verhaltens. Unter dem Begriff «Machine Learning» würden Programme als intelligent in Erscheinung gebracht. Google beispielsweise gelang es, den menschlichen Gegner im jahrhundertealten Brettspiel Go zu besiegen, erreicht durch «Machine Learning» in Form von tausendfachem Spiel gegen sich selbst. Versuche, einen maschinengenerierten Nummer-eins-Hit in der Musikindustrie zu platzieren, sind bereits im Gang (vgl. Antwerp Research Institute for the Arts). Sind es am Ende doch nicht die Menschen, welche die Musik machen? Harenberg und Weissberg liefern gleich den vielsagenden Kommentar dazu: «Das ist nicht lustig.» Was hier zur Anwendung kommt, ist frei von jeglichen humanen Fähigkeiten und in erster Linie eine unfassbar schnelle Datenverarbeitung. Mit «intelligent» hat dies laut Harenberg und Weissberg nicht viel gemein. Die Big-Data-Anwendung verdränge den Bastler und sei nur für die Grossindustrie nutzbar. Die Digitalisierung leiste keinen Beitrag zur Demokratisierung des Musikmarktes.

An diesem Punkt herrschte Uneinigkeit unter den Referenten. Von einer digitalen Demokratisierung sprach beispielsweise Jan Herbst. Die Möglichkeit, virtuelles Equipment zu verwenden und dessen niedrige Kosten dank Online-Verfügbarkeit sollten die Chancengleichheit gewährleisten. Probleme der Urheberrechtsverwaltung und Einstiegshürden bei den Zahlungsmitteln kamen dabei nicht zur Sprache. Harenberg und Weissberg appellierten an die Hochschulen, ihre Verantwortung im Umgang mit diesen Phänomenen wahrzunehmen. Nicht die technologischen Aspekte sollten in den Fokus ihrer Programme gelangen, vielmehr gelte es, die Aufmerksamkeit auf die noch immer vorhandenen Subkulturen zu richten.
 

Schlussfolgerungen

Fazit der dicht programmierten Veranstaltung: Das Symposium glänzte in erster Linie mit einem hohen historischen Bewusstsein. Viel Zukunftsmusik war jedoch nicht dabei. Ein Blick über die Zeitgeschichte hinaus bleibt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nach wie vor verwehrt. Ausblicke lassen sich im Bereich der kreativen Ideen ansiedeln, werden jedoch kaum gewagt. Dass die Zukunft eine elektronische sein wird, blieb jedoch ausser Frage. Beiträge mit einer akustischen Vision blieben aus. Einziger Hinweis in diese Richtung kam von Harenberg und Weissberg: «Die Wandergitarre gibt es nicht in elektronisch.» Als stimmiger Abschluss kam erneut der eröffnende Gast zu Wort. Diesmal in einer musikalischen Performance. Bruno Spoerri bewies unter augenzwinkerndem historischen Bewusstsein, dass die Suche kein Ende hat und die Zukunft auf jeden Fall Neues mit sich bringen wird.

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