Neue Musik in mittelalterlichen Mauern

Das Forum Wallis ist ein international gut vernetztes Festival an einem spektakulären Ort.

Jedes Festival hat seine identitätsstiftenden Säle und Gebäude. Bayreuth hat das Festspielhaus, Salzburg die Felsenreitschule, Luzern das KKL. Und das Forum Wallis hat das einzigartige Schloss Leuk.

Die einstige Sommerresidenz der Sittener Bischöfe aus dem Spätmittelalter, hoch über dem Tal am Eingang des Dorfs gelegen und von Weinbergen umgeben, wurde von Mario Botta architektonisch sanft renoviert und wird seit 1996 von der Stiftung Schloss Leuk verwaltet, die hier ein Kulturzentrum mit internationaler Ausstrahlung eingerichtet hat. In diesem spektakulären Bau hat auch das Forum Wallis Gastrecht. Das dreitägige Festival findet gewöhnlich an Pfingsten statt, doch diesmal wegen der Pandemie erst im August. Als Hauptkonzertsaal dient ein ebenerdiger Raum, in dessen rohem Mauerwerk über den Köpfen noch die diskret beleuchteten Spuren der Zwischenböden und des mächtigen Kamins sichtbar sind. Der akustisch hervorragende Klangraum reicht bis unters Dach, und eine Glasfassade auf der Eingangsseite lässt vergessen, dass man von meterdicken Mauern umgeben ist. Schon dieses einzigartige Ambiente macht den Konzertbesuch zu etwas Besonderem.

Freier Zugang zu den Konzerten

Die Sektion Wallis der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM-VS) veranstaltet das Festival, Programmmacher ist deren Vorsitzender Javier Hagen aus Brig, der zugleich die IGNM Schweiz präsidiert. Zwei Dutzend Institutionen von der Loterie Romande bis zu regionalen Sponsoren finanzieren das Festival. Die Eigeneinnahmen bestehen aus Spenden, der Eintritt ist frei. «Die IGNM-VS», heisst es seitens der Veranstalter, «möchte ausdrücklich den Zugang zu zeitgenössischer Musik und Kultur frei von einem ökonomischen Zwang gewährleisten.» Auch das Dorf Leuk hat etwas davon: Es kann von der Umwegrentabilität profitieren.

Den Räumlichkeiten entsprechend präsentieren die Konzerte vor allem Kammermusik- und Solostücke mit und ohne Elektronik. Eine thematische Ausrichtung gibt es nicht. Es herrscht eine lockere, beinahe familiäre Atmosphäre, man kommt schnell in Kontakt mit den Ausführenden.

Der Festivalchef als Netzwerker und Interpret

Wer glaubt, es handle sich hier bloss um einen Provinztreff, täuscht sich. Die Walliser sind bekanntlich ein rühriges Völkchen, und das nicht nur im Fussball. Javier Hagen, ein kultureller Aktivist aus Leidenschaft, spielt virtuos auf der Klaviatur seiner internationalen Beziehungen. Als begnadeter Netzwerker kann er jederzeit eine Schar vorzüglicher Interpreten für sein Festival abrufen. UMS‘n JIP dient dabei als eine Art Passepartout zu den internationalen Musiker- und Veranstalterkreisen. Das Kürzel ist das Markenzeichen des Duos für Stimme und Blockflöten, das Hagen, ein ausgebildeter Sänger und Komponist, zusammen mit Ulrike Mayer-Spohn bildet. Die Veranstalter sind offensichtlich scharf auf die ausgefallene Besetzung, die beiden kommen auf rund hundertvierzig Auftritte pro Jahr von Europa bis Fernost.

Beim Forum Wallis trat das Duo nun in zwei gross dimensionierten Werken auf. Unter dem Titel Playing with Morton bot es die minimalistischen Three Voices von Morton Feldman in einer Version für Stimme, Blockflöten und Zuspielung. Die Spannung im meditativen Stück hielt es über fünf Viertelstunden mit unerschütterlicher Ruhe aufrecht.

Hier werden die letzten Dinge verhandelt

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Das Duo UMS‘n JIP, Uraufführung von Mathias Steinauers «Einfalt». Videostill: Max Nyffeler

Ein zweiter Auftritt des Duos galt der Uraufführung eines neuen Werks von Mathias Steinauer für Stimme/Synthesizer, Blockflöten und Bildprojektionen: ein elfteiliger Liederzyklus, basierend auf Textfragmenten des chinesischen Dichters Du Fu aus dem achten Jahrhundert. Der Titel Einfalt – er soll auf die Abwesenheit von «falscher Rücksichtnahme, Verstellung und Unredlichkeit» verweisen – ist pures Understatement. Die Inhalte kreisen um das grosse Thema der Vergänglichkeit und werden mit eindringlicher Genauigkeit musikalisch reflektiert. Die Reduktion auf das Wesentliche in Aussage und Verarbeitung hinterlässt einen starken Eindruck. Die klangliche Ebene wird optisch kontrapunktiert durch die Projektion von Bildern von John Lavery (1856–1941), der sich sowohl als Gesellschaftsmaler des Fin de Siècle als auch als Dokumentarist im Ersten Weltkrieg betätigte. Ein visueller Verfremdungseffekt, der die Thematik nochmals in ganz anderem Licht erscheinen lässt.

 

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Lukas Huber: «slow fire | durch mich». Foto: Max Nyffeler

Steinauers Hinwendung zu den letzten Dingen fand eine Fortsetzung in der Soloperformance slow fire | durch mich des um eine Generation jüngeren Lukas Huber. Die Bezeichnung «Oper» war natürlich zu hoch gegriffen, aber in der Absage an unverbindliche Materialexperimente wie an gängige politische Parolen und in der existenziellen Dringlichkeit, mit der er seine Botschaft von der Nichtigkeit unseres Daseins formulierte, traf Huber mit seinem schlicht gehaltenen Auftritt zweifellos einen Nerv. Ein Stuhl, ein Tischlein, ein kleines Gerät für eine einfache Elektronik und eine nackte Glühbirne, die ein trübes Licht verbreitete: Das waren die einzigen Requisiten für seinen gesprochenen und gesungenen Monolog, der mit Zitaten von den alten Griechen bis zu heutigen Schriftstellern angereichert war. Die Besucher bildeten einen Halbkreis um die karge Szenerie. Die Séance endete mit einer sanften missionarischen Geste – zum Abschied erhielt jeder Besucher noch ein kleines Traktat mit den Kernaussagen der Performance in die Hand gedrückt.

Konzertmarathon mit akusmatischer Musik

Das war der Weg nach innen. Die Welt des materiellen Aussen kam in einer «Langen Nacht der neuen Musik» zum Zug. Das Forum Wallis hatte einen weltweiten «Call for acousmatic works» gestartet, Juroren aus vier Kontinenten wählten dann aus den Einsendungen die Stücke aus, die nun in einem Konzertmarathon aufgeführt wurden. Für die Klangregie sorgten junge Komponisten unter der Leitung von Simone Conforti, der am Ircam Paris arbeitet und am Konservatorium von Cuneo unterrichtet. Das ästhetische Spektrum der Arbeiten war weit, doch gab es manche untergründigen Gemeinsamkeiten, so etwa die sinnliche Auffassung von Klang und ein individueller, oft auch spielerischer Umgang mit den Möglichkeiten des technischen Mediums Computer.

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Lange Nacht der neuen Musik. Eine Klangregisseurin während des Klangmarathons. Foto: Max Nyffeler

Elektronische Mittel, jedoch in Verbindung mit Instrumentalspiel live, verwendet auch der zwischen New York und Afrika pendelnde Perkussionist Lukas Ligeti. Auf einer Art Midi-Marimbafon entfaltete er ein virtuoses Spiel, in dem die komplexen Rhythmusstrukturen der afrikanischen Musizierpraxis erkennbar waren. Die Klänge sind im Computer gespeichert und kommen aus dem Lautsprecher, wobei sie durch Anschlagsnuancen in ihrem Charakter tiefgreifend verändert werden können.

Notierte Musik kontra Improvisation

Als Kontrast zur Lautsprechermusik fungierten zwei Improvisationskonzerte. Das Trio Manuel Mengis (Trompete), Roberto Domeniconi (Keyboard) und Lionel Friedli (Perkussion) beendete das Festival mit einer computergestützten Improvisation, die sich zwischen ratlos-verlorenem Herumstochern in Klangbröseln und anarchischer Wildheit bewegte. Ein gerade einsetzender Gewitterdonner lieferte dazu den passenden Kontrapunkt. Gesitteter ging es zu beim Trio Urban Mäder (Stimme, Klangobjekte), Hans-Peter Pfammatter (Synthesizer) und Silke Strahl (Saxofon): drei Individualitäten, die perfekt aufeinander eingestimmt sind und sich zu sensibel geformten Klangprozessen zusammenfinden können. Die Suchbewegungen bei der Entstehung grösserer Spannungsverläufe sind von einer Folgerichtigkeit, als ob sie einstudiert wären.

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Hyper Duo. Gilles Grimaître (rechts) und Julien Mégroz. Foto: Max Nyffeler

Diesem gepflegten Miteinander vorangegangen war ein eruptives Konzert des Hyper Duo aus Biel mit Gilles Grimaître am Keyboard und Julien Mégroz an Perkussionsinstrumenten. In einem einstündigen Parforceritt spielten sie vier durch kurze Überleitungen verbundene Werke von vier Komponisten, jedes auf seine Art von einer Virtuosität, die vor allem das rhythmische Zusammenspiel zu einem Hochseilakt macht. Das war hochgradige Präzision und Spielfreude pur, eine atemberaubende Demonstration musikalischer Manpower. Und auch ein schöner Beweis für die Durchschlagskraft von notierter Musik, wenn sie so leidenschaftlich zum Klingen gebracht wird. Verglichen damit wirkten die Improvisationskonzerte ein bisschen oldschool.

Beeindruckender Nachwuchs

Begonnen hatte das abwechslungsreich programmierte Festival mit einem Muntermacher, der die Handschrift des Ensemble Modern trug. Der Oboist Christian Hommel hatte mit drei Mitgliedern der Internationalen Ensemble-Modern-Akademie Werke von Benjamin Britten bis Rebecca Saunders einstudiert und stellte damit einmal mehr die hohe Interpretationskultur dieses Ensembles unter Beweis. Er selbst brillierte mit dem klanglich wilden, alle physischen Ressourcen mobilisierenden Solostück Ungebräuchliches von Rolf Riem. Die koreanische Geigerin Jae A Shin brachte mit grossem Schwung die eminent schwierige, mit Doppelgriffen gespickte frühe Solosonate von Bernd Alois Zimmermann zu Gehör. Bei solchem Nachwuchs braucht man sich um die Zukunft der Musik keine Sorgen zu machen.

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