Skrjabin auf die Finger geschaut

Anfang September trafen sich Studierende und Interpretationsforscher zu einem Meisterkurs im Künstlerhaus Boswil. Dass es heute möglich ist, das Spiel von Künstlerinnen und Künstlern vergangener Zeiten minutiös zu analysieren, kann der Klavierpädagogik neue Horizonte eröffnen.

Im Seewener Museum für Musikautomaten steht eine geschichtsträchtige mechanische Orgel. Sie hätte in die Britannic, das Schwesterschiff der 1912 gesunkenen Titanic, eingebaut werden sollen. Dazu kam es nicht; die Britannic sank im ersten Weltkrieg ebenfalls. Die Britannic-Orgel ist in den letzten Jahren zum Ausgangspunkt spezieller Forschungen geworden. Sie haben dazu geführt, dass Musikstudierende heute längst verstorbenen Komponisten oder Konzertpianisten – etwa Rachmaninow oder Eugène d’Albert – auf die Finger blicken können, wenn auf hochmodernen Flügeln ihr Spiel reproduziert wird. Für die Klavierpädagogik eröffnen sich damit ganz neue, hochinteressante Perspektiven. Ein Meisterkurs im Künstlerhaus Boswil hat dies auf eindrückliche Weise gezeigt.

Papierrollen als Klangquellen

Die Britannic-Orgel war ein Produkt der Freiburger Manufaktur Welte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem mit mechanischen Klavieren Furore machte. Auf diesen haben Persönlichkeiten wie Carl Reinecke, Ferruccio Busoni, Teresa Carreño, Artur Schnabel oder Edwin Fischer und Komponisten wie Debussy, Saint-Saëns, Skrjabin, Reger, Grieg, Granados, Mahler oder Gershwin ihr Spiel verewigt. Aufgezeichnet wurde es auf Papierrollen, auf der Basis eines komplizierten Druckluft-Mechanismus. Auch die Dynamik ist dabei registriert worden, mit einem heute kaum mehr rekonstruierbaren Verfahren.

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Spieltisch der Britannic-Orgel

Teams der Berner Hochschule der Künste (HKB) haben in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Nationalphonothek Lugano zunächst die grossen Bestände an Musikrollen zur Britannic-Orgel digital erfasst und zugänglich gemacht. Die dabei gesammelten Erfahrungen erlaubten, auch die Musikrollen des mechanischen Klaviers Welte-Mignon digital zu erfassen. Die Daten wurden so aufbereitet, dass man sie auf ein Yamaha-Disklavier, eine Art moderne, aber weitaus präzisere Version des Welte-Mignons, übertragen konnte.

Das Studium der Einspielungen Busonis, Debussys oder Griegs hat nicht nur Erkenntnisse zur historischen Interpretationspraxis ergänzt, die bereits dank frühen akustischen Aufnahmen gewonnen worden sind. Die Papierrollen liefern zu Dynamik, Anschlags- oder Pedaltechniken – wenn auch nicht hundertprozentig zuverlässig – präzisere Zeugnisse als die verrauschten Grammofon-Aufnahmen. Unschätzbar ist dabei vor allem der pädagogische Wert: Studierende können auf der Tastatur des Disklaviers das historische Spiel mitverfolgen, ihm mit den eigenen Fingern nachspüren oder die eigene Reproduktion des Vorbildes so lange nachspielen und -korrigieren, bis sie es exakt kopieren können.

Dabei geht es natürlich nicht darum, Interpretationen der goldenen Epoche des Klaviervirtuosentums eins zu eins wiederzugeben. Das Verfahren hilft aber, die damaligen Intentionen taktil und visuell besser zu verstehen. Die Pianisten und Interpretationsforscher Manuel Bärtsch und Sebastian Bausch, die das Welte-Mignon-Projekt «Magic Piano» an der HKB entwickelt haben, arbeiteten am Boswiler Meisterkurs mit den Studierenden an Werken von Chopin, Liszt, Schubert, Schumann, Brahms und Skrjabin sowie an den für die damalige Zeit typischen Ausdruckmitteln. Die Welte-Mignon-Überlieferungen zeigten etwa, wie frei und spontan selbst die Komponisten mit ihren Werken umgegangen waren. Sie spielten sorglos Rubati, synchronisierten linke und rechte Hand keineswegs immer oder arpeggierten ganze Akkord-Partien und liessen gar scheinbar willkürlich ganze Takte aus.

Ungeklärtes und Potenziale

Dabei sind Fragen offengeblieben: Viele Virtuosinnen und Virtuosen spielten für Welte auf der Durchreise, ohne grossen Aufwand zu betreiben, Werke ein – manche wohl, ohne zu realisieren, dass diese Zeugnisse Jahrzehnte überdauern dürften. Es mag also sein, dass der eine oder die andere die Einspielung eher auf die leichte Schulter nahm. Unklar ist auch, wie zuverlässig die Technik zur Erfassung der Dynamik tatsächlich war. Ganz auszuschliessen ist nicht einmal, dass da in einer Nachbearbeitung etwas nachgeholfen wurde. Die recht geheimnisvolle Methode zur Erfassung der Dynamik könnte möglicherweise auch einfach darin bestanden haben, dass Welte-Mitarbeiter während der Aufnahmen Notizen machten, worauf die dynamischen Unterschiede dann in einem weiteren Schritt hinzugefügt wurden.

Die Auseinandersetzung mit den Welte-Rollen öffnet überraschende Perspektiven: Man könnte das Verfahren auf Meisterkurse mit heutigen Virtuosen anwenden, indem diese auf dem Disklavier ihre Interpretationen einspielten, die dann analysiert würden wie die historischen Welte-Aufnahmen. Tatsächlich kann der Boswiler Meisterkurs in einem grossen Kontext gesehen werden: als Zeichen von Umwälzungen in der Musikpädagogik, angestossen von den Sozialen Medien. Mittlerweile herrscht ein unüberblickbares Angebot an Onlinekursen und Coachings, die ihre eigenen Stärken haben. Vor allem können sie zum Spiel eines Lehrers oder einer Lehrerin in Echtzeit begleitende Daten aufspielen (Anschlagsstärke, Pedalnutzung, Zeitpunkt des Loslassens einer Taste und so weiter). Das Institut Interpretation der HKB hat es in der Hand, den Schritt von der historischen Datenerhebung und -aufbereitung zur pädagogischen Nutzung der Erkenntnisse zu gehen.

Website «Magic Piano»

Torsten Möller
Befreiender Blick zurück
Was lässt sich aus Aufnahmenin Welte-Mignon-Technik erschliessen?
Artikel in Schweizer Musikzeitung 6/2021(PDF)

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