Klassik sucht Vielfalt

Das internationale Fachtreffen Classical:next widmete sich Fragen der Kollaboration und Öffnung. Fairer Zugang im Klassiksektor fehle.

In der Staatsoper Hannover wurde festlich und in ausgelassener Stimmung die Eröffnung der seit zehn Jahren bestehenden Klassikmesse gefeiert. Hannover, als Unesco City of Music ausgezeichnet, ist nach Rotterdam der neue Standort des Fachtreffens für Veranstalter, Musikverbände, Musikindustrie und Musikkreative. Hunderte Delegierte waren offensichtlich fest entschlossen, die Folgen der vergangenen zwei Jahre und die Herausforderungen der Klimakatastrophe und des bedrohlichen Kriegsgeschehens in Osteuropa aktiv anzugehen. Die eigens zur Eröffnung kreierte Show NEXT:matters! begeisterte mit der Uraufführung von Dubwise and Dread Volume 1 von Jason Yarde und Werken von Maximilian Guth, hinreissend musiziert von Asambura (Hannover) und Colorfull UK.

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Asambura und Colorfull UK am Eröffnungsabend

Wann ist eine Praxis fair?

Mehr noch als an den zurückliegenden Ausgaben des internationalen Fachtreffens wurde im Congress Center am Stadtrand an vier Tagen konstatiert und diskutiert, ob der Zugang zu den vielfältigen Welten des Sektors eigentlich endlich ein fairer sei. Sind die Fragen rund um Exklusivität – gern beschworen in der Vergangenheit – und Diversität nicht oft genug gestellt worden? Wie kann den als problematisch beschriebenen Gatekeepern das Handwerk gelegt und Vielfalt realisiert werden?

Bereits die Ausschreibung von Kompositionsaufträgen zum Beispiel birgt eine Reihe von Stolpersteinen auf dem Weg zu einer fairen Vergabepraxis. So ist in Grossbritannien erfasst, dass Komponistinnen rund 1500 Euro weniger Honorar erhalten als ihre Kollegen, dies bedingt durch die Tatsache, dass sie durchwegs Aufträge für kleine Besetzung erhalten und nicht an die grossen Ensembles gelangen. Aus Norwegen wurde berichtet, dass nur etwa zehn Prozent der durch Kompositionsaufträge generierten Einkommen an Frauen gehen. In den Niederlanden ist es sogar üblich, die Sicherung der Finanzierung auch den Komponierenden zu überlassen. Anne La Berge (Niederländische Berufsvereinigung von Komponistinnen und Komponisten Nieuw Geneco, NL) stellte «Fair Practice» vor. Dabei wird unter anderem vorgeschlagen, als Kooperationsgemeinschaften Aufträge zu vergeben und mittels Partnermodellen zu mehr als nur einer Uraufführung zu kommen. Sie betonte, dass sich Komponistinnen unbedingt besser verkaufen und allenfalls auch organisieren sollten.

Gibt es Fort- oder eher Rückschritte?

Wen lassen wir zurück? Die Musikindustrie und ihre Echokammern haben es noch immer nicht geschafft, faire Zugangsbedingungen zu Ausbildung, Stipendien und Arbeitsmarkt zu schaffen. Selbst im Fall eines «open call» kann nicht davon ausgegangen werden, dass gleiche Bedingungen bereits einen fairen Zugang garantieren. Da dies auch für den Bereich der Talententwicklung gilt, sind alle Player der Musikvermittlung eingeladen, das eigene Verhalten und die institutionelle Praxis auf Voreingenommenheit zu prüfen.

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Roger Wilson appelliert an die Ehrlichkeit.

Roger Wilson (Black Lives in Music, UK) rief das engagiert diskutierende Auditorium zu mehr Ehrlichkeit auf: Hat sich etwas geändert seit dem Tod von George Floyd 2020? Wird der (rassistischen) Ungleichheit stärker entgegengetreten? Ist die klassische Musikbranche «versklavt» in ihren Traditionen? Wilson benannte vier Felder, in welchen Wandel geschehen muss: Governance, Programmierung, Rekrutierung und Kommunikation. Sobald es gelingt, durch ein vielfältigeres (Programm-)Angebot an jüngeres Publikum zu gelangen, potenzieren sich die Chancen, auch zukünftig erfolgreich zu wirtschaften. Einen Zeit- und Aktionsplan zu entwerfen, mit Zielen zu unterfüttern und vor allem Daten zu erheben, sollte in jeder Institution möglich sein, welche sich aufmacht, Menschen ausserhalb der eigenen Blase die Möglichkeiten des Mittuns zu geben. Die Zeit drängt, die Bedingungen sind eher schlechter geworden (s. Report Being Black In The UK Music Industry).

Wie geht es weiter?

In den vergangenen zwei Jahren hat sich der Klassiksektor im digitalen Bereich mehr verändert als in den 15 Jahren zuvor. Benjamin Woodroffe (Global Foundation for the Performing Arts, New York/Genf) besprach mit der Musikwissenschaftlerin Julia Haferkorn (Middlesex University, UK) eine Erhebung unter britischen Musikerinnen und Musikern aus den Jahren 2020/21. Die Chancen der digitalen Distribution bei geringeren Kosten, die Gewinnung neuen Publikums, welches bereit ist, sich emotional und monetär zu engagieren, wurden als erfolgversprechend beschrieben; dennoch bleibt die Sorge, im digitalen Konzertraum viel weniger zu verdienen als mit Live-Auftritten, bestehen.

Am Schweizer Stand Swiss Music, organisiert von Fondation Suisa und Pro Helvetia, wurden diese Fragen ebenfalls vertieft diskutiert. In diesen Tagen, an denen viele Häuser und Ensembles ihre Saisonbroschüren 22/23 veröffentlichen, bietet sich die gute Gelegenheit, Programme und Besetzungen auf Diversität hin zu studieren.

An der gelungenen viertägigen Veranstaltung zur Weiterentwicklung der Musikszene und -wirtschaft nahmen mehr als 900 professionelle Akteurinnen und Akteure des erweiterten Klassiksektors aus 50 Ländern teil. Innovationspreise gingen u. a. an den Musikveranstalter Death of Classical (USA) und das Orquesta Filarmónica de Medellín (Kolumbien).

2023 wird die Veranstaltung übrigens pausieren, um das Konzept zusammen mit Ideen aus der Community weiterzuentwickeln.

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