Die Klassik in der Mediamorphose

Bei der Berliner Avant Première wurden über 500 neue Musikfilme präsentiert.

Einige Anarchisten aus dem Dokumentarfilm «Addio Lugano Bella». Foto: RSI

«Listen with your Eyes» lautet das Werbemotto von EuroArts, der internationalen Produktionsfirma für Musikfilme mit Sitz in Berlin. Und der Satz «Das Auge hört mit» ist seit gut einem Jahrzehnt zum geflügelten Wort geworden, wenn es um die Verbindung von Klassik mit bewegten Bildern geht. Was im Popbereich schon lange alltäglich ist, gilt nun auch für die sogenannte Kunstmusik: Videoaufzeichnungen setzen sich durch.

Bei der Avant Première, einer Fachmesse, die immer im Februar in Berlin unter der Regie des internationalen Musik- und Medienzentrums Wien stattfindet, wurden nun über 500 neue Musikfilme aus 38 Ländern präsentiert. Eine kleine Auswahl ist jeweils in voller Länge zu sehen, und in den stundenlangen Screening Sessions kann jede Produktions- oder Vertriebsfirma und jede Fernsehanstalt eine Viertelstunde lang Ausschnitte aus ihren Highlights vorführen. Anschliessend finden draussen in der Lobby gleich die Absprachen statt: Wer kauft was von wem und zu welchen Bedingungen. Gehandelt werden nicht nur Konzert- und Opernaufzeichnungen, ein solider Grundstock des Musikfilmbusiness, sondern auch Jazzfilme, Künstlerporträts, anspruchsvolle Dokumentationen und erstaunlich viele Tanzfilme.

Tanz

Tanz ist bekanntlich die einzige Gattung der «performing arts», die medial ausschliesslich im Film dargestellt werden kann. Das Spektrum reichte diesmal vom obligaten Nussknacker bis zum anspruchsvollen Experiment: eine Koppelung der sechs von Jean-Guihen Queyras gespielten Cellosuiten von Bach mit einer Choreografie von Anna Teresa De Keersmaeker. Die Szenerie und die sechs Tänzer sind ganz in Schwarz gehalten und der Cellist sitzt mittendrin. Der unendliche Variantenreichtum von Bachs Musik geht eine faszinierende Verbindung ein mit den Bewegungen der Körper im Raum, die Kamerabewegungen bilden in diesem Kontrapunkt eine zusätzliche Stimme. Produziert hat das filmische Kunstwerk unter dem Titel Mitten wir im Leben sind die Leipziger Firma Accentus zusammen mit NHK Tokio, dem SWR und ARTE. Budget: «over 250.000».

Tessin

Vom Schweizer Fernsehen waren diesmal nur die Tessiner vertreten, wie immer mit attraktiven Projekten. Dazu gehörten eine Dokumentation über Sergej Rachmaninow in der Schweiz und seine Villa Senar am Vierwaldstättersee sowie Addio Lugano Bella, eine faszinierende Spurensuche nach den italienischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts, die im Tessin Unterschlupf fanden. Es waren keine durchgeknallten Terroristen, sondern eingeschworene Einzelgänger und Outcasts, die auf vergilbten Fotos zu sehen sind. Tessiner Liedermacher singen dazu die nostalgischen Lieder von damals.

Trends

An Aktualität mangelte es nicht. In auffällig vielen Konzertaufzeichnungen wurde auf irgendeine Art, sei es auch nur mit einer blaugelben Fahne im Hintergrund, Solidarität mit der Ukraine geübt. «Black Music» ist im Musikfilm offensichtlich kein Aufreger; in Jazz, Pop und Ethno ist sie Alltag, und in den Sinfonieorchestern von Tokio bis Mexiko sind «Nichtweisse» ohnehin die Mehrheit. Das Phänomen «dirigierende Frau» ist aber nach wie vor ein Thema – mit zweischneidiger Wirkung. In der Euphorie, endlich anerkannt zu sein, lassen sich manche jungen Dirigentinnen zu unvorteilhaften Aussagen verleiten. Das klingt dann, als sei ihnen der Aspekt der Selbstverwirklichung wichtiger als der Dienst am Werk. Joana Mallwitz erklärt etwa, sie dirigiere, um sich selbst besser kennenzulernen, und Alondra de la Parra liebt es blumig: «Wenn ich am Dirigentenpult stehe, dann bin ich eine Frau, ich bin auch gleichzeitig ein Mann, ich bin ein Kind, ich bin ein Sonnenuntergang.»

Auf der Webseite medici.tv, dem weltweit grössten Streamingportal für Klassikfilme mit über 3500 Produktionen im Angebot, wird die Legende vom Sonderfall Dirigentin entzaubert. Hier können 46 «Grandes cheffes d’orchestre» mit ihren Aufnahmen abgerufen werden, von der erfahrenen Marin Alsop bis zur jungen Newcomerin Glass Marcano aus Venezuela. Die angeblich immer noch benachteiligte Minderheit ist im globalen Musikgeschäft längst angekommen.

Distribution

Die Verbreitungswege des Klassikfilms verlagern sich zunehmend in die zahlreichen Digitalkanäle, wo man nach dem Netflix-Prinzip für zehn Franken pro Monat ein riesiges Streamingangebot vorfindet; die physischen Produkte DVD und Blu-ray werden nach Auskunft führender Branchenvertreter nur noch als Liebhaberobjekt überleben. Die Liveaufführung in Konzertsaal und Oper hat zwar manche Vorteile gegenüber der medialen Wiedergabe, aber die «Mediamorphose» der Musik, wie der Musiksoziologe Kurt Blaukopf das einst genannt hat, ist nicht aufzuhalten. Und sie ist der entscheidende Motor des gegenwärtigen Kulturwechsels, der neuen Publikumsschichten einen Zugang zur Klassik ermöglicht und übrigens auch der Musikpädagogik neue Perspektiven eröffnet. Ein Demokratisierungseffekt, den man aus Sicht der Insider nicht kleinreden sollte. Die Berliner Avant Première bietet in dieser Hinsicht vorzügliches Anschauungsmaterial.

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Max Nyffelers Bericht über Avant Première 2019

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