Donaueschingen: Verlorenheiten und Ausbrüche

«Collaboration» war der thematische Angelpunkt der Donaueschinger Musiktage 2023 vom 19. bis 22. Oktober. Zeitweilig schien die bedrückende Weltlage bis in die Kompositionen einzuwirken.

Clara Iannotta. Foto: SWR, Astrid Karger

Abrupt mittendrin bricht der leiser werdende Klangstrom ab, unvermittelt, die Musiker verharren, ein loser Faden scheint noch verloren in der Luft zu schweben. Und von einer Verlorenheit spricht auch die italienische Komponistin Clara Iannotta in ihrem Kommentar. Eine Krankheit habe sie 2020 gezwungen, sich zu verändern. Statt konzentriert arbeiten zu können, «fühlte ich mich verloren […], ich weiss noch nicht, wer ich bin und was meine Musik sein wird». Ihr Stück where the dark earth bends, komponiert für das ungemein subtil blasende Posaunenduo Rage Thormbones und das SWR-Symphonieorchester, wurde trotzdem ein erster Höhepunkt. Wie hier die Soli, das Orchester und die Elektronik zu einer Einheit verschmelzen, war schlicht meisterlich. Das Ohr wurde hineingezogen.

Diffuses und Blasses

Das war nicht immer so bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen. Tatsächlich schwebte ein Gefühl von Verlorenheit heuer über manchem Stück, aber nur selten gelang es der Musik, Präsenz zu erlangen. Manches blieb zu diffus und kraftlos. Selbst die poetische und in sich überzeugende Komposition Dunst – als käme alles zurück, die Elnaz Sayedi zusammen mit der Dichterin Anja Kampmann geschaffen hat, wirkte streckenweise wie eine dystopische Idylle.

Vielleicht ist es den Zeitumständen, nein: diesen brutal kriegerischen Monaten geschuldet, dass sich eine gewisse Hoffnungslosigkeit breitmacht, Desillusionierung, die nicht an Zugkraft gewinnen mag. Die Saxofonistin Matana Roberts etwa liess in ihrer Elegy for Tyre: «Welcome to the World through my eyes …», die eines von Polizisten in Memphis getöteten Afroamerikaners gedenkt, das SWR-Symphonieorchester über eine Textpartitur improvisieren, was leider zu wenig Aussagekraft entwickelte. Weniger die Orchesterklänge bedrückten als das Flüstern am Ende. Der Versuch der US-Amerikanerin Jessie Marino, in ihren murder ballads die Gewalt an Frauen durch sanfte Lieder zu bannen, verblasste vollends. Das Stück des sonst so brillanten Perkussionisten Tyshawn Sorey, For Ross Gay (den Biografen der Basketball-Legende Julius Erving), steigerte sich nach einem gleichmässigen Kondukt erst am Ende zu einem gleissenden Crescendo.

Nuanciertes und Triebhaftes

In ihrem ersten grösstenteils eigenverantworteten Jahrgang hat die Festivalleiterin Lydia Rilling sich (neben einem hohen Grad an Diversity) das Thema «Collaboration» vorgenommen. Die ist in der «klassischen» Tradition zwar durchaus vorhanden, aber auf gewisse Bereiche wie Textvertonung oder Interpretation beschränkt. Dass ein Orchester grosse Teile einer vielleicht gar nicht mehr vorhandenen oder grafischen Partitur improvisiert oder zumindest selber gestaltet, ist die grosse Ausnahme. Die Französin Éliane Radigue verlangt aber gerade das von den Musikerinnen und Musikern. In ihrem Orchesterstück Occam Océan Cinquanta spielte das SWR-Symphonieorchester gemäss den Anweisungen der Co-Komponistin Carol Robinson aus dem Moment, wobei die Spielweise und auch die Form in groben Zügen zuvor erarbeitet worden war. Eine ungemein nuancenreiche Aufführung gelang dabei, eine weite Klanglandschaft.

Was jedoch das flexible Nebeneinander von freiem Spiel, Improvisation, Konzept- und Partiturinterpretation angeht, hatten die Kollegen und Kolleginnen vom Jazz die weitaus besseren Voraussetzungen. Für das grossartige New Yorker Quartett Yarn/Wire (mit zwei Klavieren und zwei Perkussionen) schufen die Saxofonistin Ingrid Laubrock und der Trompeter Peter Evans zwei vielfältige und anregende Stücke, die wieder einiges an Leben und Triebhaftigkeit in dieses Festival einbrachten. Ein Fazit voller Widersprüche also nach diesem Wochenende.

Younghi Pagh Paan. Foto: SWR, Astrid Karger

Berührendes und Ekstatisches

Wie so oft jedoch wurde es im Schlusskonzert auf den Kopf gestellt. Younghi Pagh-Paan gedachte in ihrem berührenden Orchesterstück Frau, warum weinst Du? Wen suchst Du? ihres verstorbenen Ehemanns Klaus Huber. Die Italienerin Francesca Verunelli spielte in Tune and Retune II mit diversen Verstimmungen – und erhielt dafür den Preis des SWR-Orchesters. Das Klavierkonzert von Steven Kazuo Takasugi schliesslich riss nochmals alle Klangmauern nieder: Splitternde Schichtungen, generiert in der Elektronik wohl mithilfe von Algorithmen, fortgesetzt im Orchester, prasselten da aufs Publikum ein, passagenweise sehr laut: eine wahre Freude! Nichts mehr von Verlorenheiten …

Orchesterpreis für Francesca Verunelli, überreicht von Markus Tilier. Foto: SWR, Ralf Brunner

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