Volksmusik in Graubünden

In der Sonderausstellung «Grenzenlos lüpfig» deckt das Rätische Museum in Chur die Vielfalt der traditionellen Musik dieses Kantons auf und macht deutlich, wie sie Einflüsse aus anderen Regionen aufnahm und ihrerseits auf auswärtige Musik einwirkte.

«Grenzenlos lüpfig» ist nicht modisch in Szene gesetzt, sondern wirkt mit eigens geschreinerten Kisten, Kasten, Tischen und Stabellen wie eine Bündnerstube mit Hörstationen. Fotos: Corina Hochholdinger, Rätisches Museum Chur

Silvia Conzett und ihr Team haben rund vierzig Musikinstrumente aus der hauseigenen Sammlung, einigen Bündner Heimatmuseen und dem eben eröffneten Haus für Instrumente in Kriens versammelt und mit zahlreichen Fotos und Tonbeispielen ergänzt. Zum vertiefenden Studium stehen in jedem Ausstellungsraum zudem kleine Handbibliotheken mit Singbüchern, Spielheften und Sekundärliteratur bereit.

Die im Bündnerland wichtige Vokaltradition – es wird in fünf romanischen Idiomen, Deutsch, Italienisch und Rumantsch grischun gesungen – präsentiert sich in Bildern, Notenblättern, Hörstationen und Publikationen, unter ihnen Ausgaben der bedeutenden Volksliedersammlung von Alfons Maissen. Die lebensgrossen Silhouetten einer Gruppe von sieben Sängern lädt den Besucher zum Mitsingen einer der sieben Melodien ein. Anstelle eines Katalogs stehen die Ausstellungstexte als Handouts zur freien Verfügung.

Von der Tiba bis zum Schüblöt da marmel

So wie die traditionelle Musik der ganzen Schweiz entspricht auch die Volksmusik Graubündens einer lokal ausgestalteten alpenländischen Volksmusik, die aber die Einflüsse der Nachbarländer spiegelt. Die Südtäler haben die Bandella, eine kleine Blasmusik, mit dem Tessin, der Lombardei und dem Piemont gemeinsam. Im Unterengadin wurde noch im frühen 20. Jahrhundert das Tiroler Raffele, eine Kratzzither in Salzburgerform, gezupft.

Zithern in Salzburgerform erinnern im Unterengadin ans Tiroler Raffele, die ausgestellten Geigen an die Geigenschulen im Safiental.

Die Ausstellung im Rätischen Museum weist daneben auf klingende Spezialitäten aus Graubünden hin. War die Tiba, ein konisches Naturtoninstrument aus Holz oder Weissblech, vor fünfzig Jahren fast vergessen, lebt dieses Alphorn in der Surselva wieder auf. Es wird gebaut, als Amateurinstrument gespielt und hat zu einer neuen Verwendung, den Tibadas, geführt. Dabei stellen sich die Bläser in der Landschaft auf und antworten reihum einem zentralen Tibaspieler.

Zur Hirtenmusik gehörte im Münstertal neben Viehglocken und Geisshörnern ein in der Schweiz einzigartiges Signalinstrument, der Schüblöt da marmel. Er wird aus Gipssteinen, wie sie in Santa Maria Müstair in den Rambach fallen, geschnitten. Das kleine, zum Spiel ganz auf der Zunge liegende Gefässflötchen wäre ausgestorben, hätte nicht ein aufgeweckter Ferienbub aus dem Elsass die Herstellung und Spielweise einem alten Hirten abgeschaut.

Der Bündner Stil erreicht die ganze Schweiz

Zu den Besonderheiten der Musiktradition Graubündens dürfen die Geigenschulen aus dem Safiental gezählt werden. Bereits im 19. Jahrhundert unterrichteten mehrere Lehrer Schulkinder im Bau und Spiel von Streichinstrumenten und führten die in Streusiedlungen weit auseinander wohnenden Jugendlichen in musizierenden Gruppen zusammen. Neuerdings werden die Tanzhandschriften aus dem Safiental bearbeitet und publiziert.

Vor der Standardisierung der Ländlerkapelle formierten sich in den Dörfern der deutschsprachigen Schweiz aus lokalen Streichern und Bläsern zusammengesetzte Tanzensembles, die man nach dem Vornamen des jeweiligen Bandleaders benannte. Aus der Fränzlimusik, nach dem legendären blinden Geiger Franz Waser, ist die fürs Engadin typische Besetzung der Fränzlis da Tschlin geworden (Red. siehe SMZ 11/2022, S. 19 f.).

Heute ist die Volksmusik-Szene vielfältig und lebendig. Die Ausstellung zeigt ihr Wurzeln, ihre Geschichte und ihre vielfältigen Verbindungen.

Erst in den 1930er-Jahren festigte sich die Besetzung der Ländlerkapelle, und zwar je nach den grossen Volksmusiklandschaften im sogenannten Berner Stil (mehrere Schwyzerörgeli und Bass), im Innerschweizer Stil (Klarinette, Schwyzerörgeli, Kontrabass und Klavier) und im Bündner Stil, einer Besetzung mit zwei Klarinetten, zwei Schwyzerörgeli oder Akkordeon und Bass. Dieser durch Bündner Musikanten vorerst in Gastspielen bei Bündnervereinen in den Städten, später als Mitglieder von deutschschweizerischen Kapellen, vor allem aber durch Radio Beromünster und Schallplatten verbreitete Ländlerstil wurde während der Landesausstellung 1939 zur Schweizer Nationalmusik und damit zur geistigen Landesverteidigung. Das erklärt, warum der Bündner Stil in der ganzen Schweiz bekannt und beliebt ist.

 

Grenzenlos lüpfig. Zur Volksmusik Graubündens. Sonderausstellung im Rätischen Museum (bei der Martinskirche) Chur, bis zum 3. März 2024, Di–So 10–17 Uhr

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