Höchstleistungen ohne Überbelastung

An der Hochschule Luzern – Musik wird seit einigen Jahren zum Thema Wohlbefinden bei Musikerinnen und Musikern geforscht. Das internationale Symposium vom 24. und 25. November zeigte Perspektiven auf.

Höchstleistungen ohne Überbelastung
Foto: HSLU – Musik

«No pain, no gain.» Das Motto soll auf Jane Fondas Aerobic-Videos der Achtzigerjahre zurückgehen. Es umschreibt auch eine Einstellung in der Musikpädagogik des 20. Jahrhunderts: Exzellenz ist nur zu erreichen, wenn bis über eine Schmerzgrenze hinaus geübt wird. Gewichtige Pädagogikschulen folgten gar dem Prinzip, dass nur zu perfektem Virtuosentum aufgebaut werden kann, wer zuerst seelisch gebrochen wird. In Sport und Tanz hat man sich von dieser Mentalität weitgehend verabschiedet – oder ist gerade im Begriff, dies zu tun, wie die jüngsten Skandale in der Schweizer Gymnastik- und Tanzausbildung zeigen.

Auch in der Musikausbildung ist der Sinneswandel vermehrt festzustellen. Bereits Ende der 1990er-Jahre wurden, damals noch an der Musikhochschule Winterthur-Zürich und der Hochschule für Musik Basel, von Horst Hildebrandt und Marina Sommacal musikphysiologische Angebote aufgebaut. Sie mündeten 2005/2006 in die Gründung des Schweizerischen Hochschulzentrums für Musikphysiologie als Kooperationsprojekt aller schweizerischen Musikhochschulen. Daneben initiierte die Posaunistin Pia Bucher 1997 die Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin als Anlauf- und Beratungsstelle.

Unverkrampfte und fächerübergreifende Ansätze

2019 hat das Kompetenzzentrum Music Performance Research der Hochschule Luzern ein Forschungsprogramm lanciert, das «mit spezifischen Projekten und Entwicklungsmassnahmen einen nachhaltigen Beitrag zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens» beim Musizieren leisten soll. Teil des Projektes war das von der Musikpsychologin Elena Alessandri und ihrem Team organisierte Symposium «Empowering Musicians: Gesund zum Erfolg». Es hat den Horizont noch einmal weiter als bisher üblich gesteckt: Programmiert waren unter anderem Referate mit Onlinezuschaltungen aus New York, London, Südafrika und – geografisch nicht gar so weit, aber schweizerisch-hochschulpolitisch mindestens genauso bemerkenswert – aus dem Tessin (der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana).

Da war ein erfrischender Umgang mit dem Thema zu erleben, etwa im Onlinevortrag von Noa Kageyama, der an der Juilliard-School Violine und Performance-Psychologie unterrichtet. Er demonstrierte, wie Musikerinnen und Musiker von Erkenntnissen der Sportpsychologie profitieren können – in einer für uns Zentraleuropäer ungewohnt entspannten und unprätentiösen Art. Ganz ohne Berührungsängste zur Kommerzialisierung tut Kageyama dies auch als Geschäftsmodell mit Angeboten, die auf einer Webseite namens «Bulletproofmusician» abgerufen werden können. Er machte deutlich, dass das Erlernen einer Fertigkeit und ihr Ausführen nicht dasselbe sind und nach unterschiedlichen Übestrategien verlangen.

Valentin Gloor, der Direktor der gastgebenden Institution, erklärte in seinem Grusswort, dass die Luzerner Hochschule das Thema Gesundheit departementsübergreifend zu einem Schwerpunkt macht. Das fächer- und domänenübergreifende Denken zeigt sich in den Forschungsaktivitäten des Kompetenzzentrums Music Performance Research, das etwa auch Studien zu musiktherapeutischen Heilbehandlungen umfasst. So widmet sich eine Konsultationsstudie zum Beispiel der Musiknutzung von Parkinsonpatienten in der Schweiz und stellt die Frage, wie Betroffene Musik zur Verbesserung ihrer Lebensqualität einsetzen können. (Red. siehe Artikel von Dawn Rose, SMZ 4/2022, S. 4 oder englische Version musikzeitung.ch/memory)

Prävention schon in der Musikschule

Das Symposium machte deutlich, dass sich der Zeitgeist in der Pädagogik und im musikalischen Alltag ändert. Statt Überbelastungen als Zeichen zu werten, dass man zu Höchstleistungen bereit ist, werden heute Methoden entwickelt, akute und chronische Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen. Statt einer Reparaturwerkstätte, die Hilfesuchende als Asyl der letzten Hoffnung wahrnehmen, wird die Musikermedizin mehr und mehr zum partnerschaftlichen Ort des körperlichen und psychischen Wohlbefindens.

Oliver Margulies, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der musikphysiologischen und musikmedizinischen Beratung der Zürcher Hochschule der Künste, stellte eine Initiative vor, die diesen Präventionsgedanken auch in die Musikschulen bringen soll. Ein entsprechendes Zertifikat soll sicherstellen, dass das Leitungsteam einer Musikschule sich «möglicher psycho-physischer Belastungen und gesundheitlicher Probleme durch das Musikmachen bewusst ist», sich für die Prävention und Gesundheitsförderung einsetzt und in regelmässigen Abständen musikphysiologische Weiterbildungsveranstaltungen anbietet.

In den Wunschkatalog für Musikausbildungsstätten gehört auch, dass Körperschulung, Entspannungstechniken und Mentaltraining einen Bestandteil der musikalischen Ausbildung von zusatzqualifizierten Musiklehrpersonen bilden und Bühnentrainings mit wählbarem Anforderungsgrad regelmässig und in geschütztem Rahmen stattfinden. Auch der «Praxistransfer von Forschungsergebnissen zur Trainingslehre, Pausenkonzepten, Muskel-, Atem- und Gehörphysiologie, zu Regenerationsmöglichkeiten sowie Akustik und zum Instrumentenbau in den Unterrichtsalltag» werden da gelistet.

Das könnte Sie auch interessieren