Das Walter-Furrer-«Revival»

In den letzten sechs Jahren konnten etliche Werke aufgeführt werden, es entstanden CDs und eine Masterarbeit. Den Startschuss für die neuerliche Beschäftigung mit dem Komponisten gab ein Artikel in der «Schweizer Musikzeitung», treibende Kraft ist Beatrice Wolf-Furrer.

 

Walter Furrer arbeitete von 1957-1968 in Bern. Foto:zVg/www.walter-furrer.ch

Im Juni 2012 hatte ich, aus einer Art Pflichtgefühl heraus, den musikalischen Nachlass meines Vaters, des Schweizer Komponisten Walter Furrer (1902–1978), der Burgerbibliothek Bern im Rahmen eines Schenkungsvertrages übergeben. Seine musikalische Produktion hatte ihm zu Lebzeiten zwar gelegentliche Anerkennung, aber nie einen Durchbruch im eigentlichen Sinne eingebracht. Nur zwei Jahre nach der Schenkung war mir wie selbstverständlich die Aufgabe zugewachsen, seine Werke zu neuem Leben zu erwecken.

Die grosse Frage: Wie beginnen? Ich war schon seit Längerem im Besitz einer Kopie des autobiografischen Aufsatzes Meine Studienjahre in Paris. Ich las ihn zum ersten Mal genau durch, merkte, dass er gut und dazu mit einer ganz eigenen furrerschen Prise Humor geschrieben war; was lag näher, als ihn der Schweizer Musikzeitung anzubieten! So kam es im November 2014 zur Publikation eines besonders süffigen Ausschnitts. Der Aufsatz als Ganzes wurde ins Netz gestellt. Und er brachte mir sogar einige Reaktionen von Lesern ein, denen Walter Furrer noch ein Begriff war.

Die Schweizer Musikzeitung unterstützte meine Arbeit weiterhin, indem sie die Interviews ins Netz stellte, die ich 2015 mit folgenden Personen führte, die Walter Furrer noch gekannt hatten:

• mit dem Organisten Heinz-Roland Schneeberger (1928–2016), der sich besonders um die Orgelkomposition Le chiese di Assisi. Nove visioni musicali per organo verdient gemacht hatte;

• mit dem Schweizer Komponisten Klaus Cornell, den ich in Konstanz traf;

• mit dem Musikfachmann Walter Kläy, der, wie auch Klaus Cornell, seinerzeit ein junger Kollege Walter Furrers bei Radio Studio Bern war;

• mit der Witwe des Schweizer Klarinettisten Antony Morf. Ihm hatte Walter Furrer seine kleine Komposition Nahtegal, guot vogellîn gewidmet.

Ein erster Schritt war getan. Wie weiter?

«Wende dich an die Hochschulen der Künste», rieten mir Freunde und Bekannte. Das tat ich schweizweit – ohne Erfolg. Aber ich bekam dabei den wertvollen Tipp, mit dem Berner Kammerorchester Kontakt aufzunehmen. Dadurch lernte ich dessen damaligen Geschäftsführer, Beat Sieber, kennen (heute ist er Intendant der Kammerphilharmonie Graubünden). Schon nach kurzer Zeit – er hatte sich inzwischen in der Burgerbibliothek umgesehen – teilte er mir mit, dass das Berner Kammerorchester im Mai 2017 Walter Furrers Vokalzyklus Sechs Türkische Lieder für Bariton und Kammerorchester (Uraufführung 1971 im Centre de musique contemporaine et de premières auditions, Genf) in sein Themenkonzert Alla Turca einbauen werde.
Das Konzert fand, unter der Leitung von Philippe Bach, am 21. Mai 2017 im Konservatorium Bern statt, die Lieder interpretierte die Mezzosopranistin Claude Eichenberger; die ganze Aufführung wurde von Radio SRF 2 Kultur mitgeschnitten und am 6. Juli 2017 gesendet.

Der Zyklus Türkische Lieder hatte auch in der Folgezeit Glück: Am 15. März 2019 erklang er erneut, und zwar in einem Jubiläumskonzert des Thurgauer Kammerorchesters in Kreuzlingen, am Pult stand der vorwiegend in Deutschland tätige Schweizer Dirigent Tobias Engeli. Wiederum interpretierte eine Sängerin, Barbara Hensinger, die Lieder. Sowohl von der Berner als auch von der Kreuzlinger Erstaufführung existiert eine Netzkritik des Bieler Musikfachmanns Daniel Andres (s. Homepage www.walter-furrer.ch).

Bereits 2015 wurde der Förderverein Komponist Walter Furrer gegründet, mit der Minimalbesetzung von drei Personen: Beat Sieber, Patrick Freudiger und ich. An dieser Form hat sich bis heute nichts geändert. Beat Sieber richtete die genannte Homepage ein, die er seither verwaltet.

Kurz danach besuchte mich der u. a. an der Burgdorfer Musikschule tätige Klarinettist Andreas Ramseier; auch er erwärmte sich für Walter Furrers Musik und half mir, ein erstes Vokalkonzert zu organisieren, an dem neben ihm selbst die Künstlerinnen Barbara Hensinger (Alt), Yvonne Friedli (Sopran) und Barbara Jost (Oboe) sowie der Pianist Andres Joho mitwirkten. Es wurde ab 2017 dreimal in der Schweiz und zweimal in Deutschland aufgeführt; so bot sich auch Gelegenheit, in Plauen im Vogtland, dem Geburtsort des Komponisten, erstmals auf ihn aufmerksam zu machen.

Musikwissenschaftliches Institut der Universität Bern

Im Dezember 2016 hielt Cristina Urchueguía am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Bern das editionsphilologische Seminar «Den Schweizer Komponisten Walter Furrer vor dem Vergessenwerden bewahren»; aus diesem Seminar gingen zwei weiterführende Arbeiten hervor:

• Walter Furrers in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstandene kleine Komposition Nahtegal, guot vogellîn für Kammerchor, Viola, Gitarre, Blockflöte und Tamburin (Text: Heinrich von Stretelingen, 1258–1294) wurde von der Lautenistin Irina Döring für Laute, Flöte, Akkordeon und Sopran arrangiert und in dieser Form vom Ensemble Lumières médiévales fünfmal in der Schweiz aufgeführt.

• Eine weitere Teilnehmerin, Tamara Ackermann, griff sich aus dem reichhaltigen Chorœuvre die sogenannten «Arbeiterlieder» heraus, die später zum Thema ihrer Masterarbeit werden sollten.

2018 – Walter Furrers Todestag jährte sich zum 40. Mal – war ein besonders reichhaltiges Jahr:

• Am 17. und 18. März interpretierte die Zürcher Sing-Akademie unter der Leitung von Florian Helgath Walter Furrers seinerzeit im Auftrag des Berner Stadttheaters entstandene und vom Zürcher Musikverlag Hug gedruckte Komposition Drei religiöse Chöre aus Faust I (Goethe; Mater dolorosa, Dies irae, Chorus ad diem festi paschae). Die am 22. Februar 1944 in einer Neuinszenierung von Faust I uraufgeführten Chöre wurden damals zu wenig beachtet und haben nun erst ihre volle Würdigung erlebt (s. Homepage).

• Am 19./20. Juni 2018 kam es bei SRF 2 Kultur zu einer Studioaufnahme, deren Zustandekommen ich dem Musikproduzenten Norbert Graf sowie der Tatsache verdanke, dass Beat Lüthi, damaliger Leiter des Berner Musikverlags Müller & Schade AG, sich zu einer Co-Produktion bereit erklärte. Aufgenommen wurden Teile aus dem genannten ersten Vokalkonzert sowie die Totenklage des Lieschen aus Walter Furrers 1947 am Stadttheater Bern uraufgeführter Oper Der Faun (Ausführende: Yvonne Friedli, Andres Joho).

Den Schluss bildete eine Aufnahme der genannten Chöre aus Faust I, welche die Zürcher Sing-Akademie grosszügigerweise für diese Gedenk-CD zur Verfügung stellte. Diese erlaubt somit einen Einblick in drei wesentliche Bereiche des furrerschen Œuvres: Liedgesang, Oper und Chor-Komposition. Sie kam im Spätherbst 2018 – zusammen mit dem Buch Walter Furrer (1902–1978), ein zu Unrecht vergessener Schweizer Komponist. Ein biografischer Abriss von Beatrice Wolf-Furrer – bei Müller & Schade AG heraus. Noch im gleichen Jahr sendete SRF 2 Kultur unter dem Titel «Zu Unrecht vergessen?» einen Teil der Vokalzyklen, zusammen mit Werken anderer, ebenfalls vergessener Komponisten.

• Ende Augst legte Tamara Ackermann an der Uni Basel ihre Masterarbeit Vision – Die Kompositionsvorstellungen des Schweizerischen Arbeitersängerverbands am Beispiel der Arbeiterlieder von Walter Furrer (1902–1978) vor. Diese Chöre waren seinerzeit vom Schweizerischen Arbeitersängerverband angefordert und zu einem grossen Teil auch verlegt worden. Die Arbeit wird 2021 von der Musikforschenden Gesellschaft der Schweiz gedruckt werden.

• Zu einem ersten durchschlagenden Erfolg in Deutschland kam es am 10. und 12. Oktober 2018 in Reichenbach (Neuberinhaus) und Greiz (Stadthalle): Die Vogtland Philharmonie unter der Leitung von Dorian Keilhack spielte Walter Furrers Scherzo drolatique, das der 1949/52 entstandenen, bisher noch nie aufgeführten zweiten Oper Zwerg Nase (nach dem Kunstmärchen von Wilhelm Hauff) zuzuordnen ist: Es handelt sich um eine 1955 erstellte Konzertbearbeitung des Küchenjungen-Balletts aus dem 4. Bild, die im 20. Jahrhundert mehrfach von schweizerischen Rundfunksendern ausgestrahlt und zudem 1973 in Aachen öffentlich aufgeführt worden war.

• Am 12. Oktober 2018 wurde – zeitgleich mit dem Konzert der Vogtland Philharmonie in Greiz – in der Schwartzschen Villa in Berlin-Steglitz zum fünften und letzten Mal das mehrfach genannte Vokalkonzert aufgeführt.

Aber auch für die Jahre 2019 und sogar 2020 gibt es in Sachen Walter Furrer Nennenswertes zu berichten. Zunächst fand am 6. Juni 2019 in der Burgerbibliothek Bern eine gut besuchte Soiree statt: Im ersten Teil berichtete ich über die bisherigen Aktivitäten, im zweiten erläuterte Tamara Ackermann die Kernpunkte ihrer Masterarbeit und im dritten informierte Andreas Barblan an Beispielen über die furrerschen Archivalien.

In der ersten Hälfte des Jahres 2019 lernte ich den Organisten Matthias Wamser kennen. Er ist als Organist hauptsächlich an der Antoniuskirche Basel tätig, leitet mehrere Chöre, veröffentlicht musikwissenschaftliche Texte und setzt sich aktiv für vergessene Komponisten und Komponistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts ein. Die Geistlichen Kompositionen Walter Furrers – es sind, rechnet man Drei religiöse Chöre aus Faust I nicht dazu, nur drei, die dennoch im Gesamtwerk eine signifikante Stelle einnehmen – gefielen ihm spontan, wobei es zunächst nur um das 1973 entstandene Le chiese di Assisi. Nove visioni musicali per organo ging. D

urch mehrfache Besuche in der umbrischen Stadt Assisi lernte der Komponist deren neun Kirchen immer besser kennen und zog ihn die franziskanische Spiritualität zusehends in ihren Bann. Am 13. Oktober 2019, 46 Jahre nach der Uraufführung in der Cathédrale de Lausanne, wurden die Chiese in der Basler Antoniuskirche zu neuem Leben erweckt: Matthias Wamser hatte sie in das Konzert «Orgelmusik auf dem Weg zu Franz von Assisi» mit Werken von César Franck, Charles Tournemire, Franz Liszt und Hermann Suter eingebaut. Am 9. Juli 2020 spielte er sie erneut, und zwar im Rahmen des von Heiko Brosig geleiteten Plauener Orgelsommers in der monumentalen St. Johanniskirche.

Matthias Wamser hatte sich inzwischen auch mit den beiden Psalmen befasst, und so kam es am 22. November 2020 zur Aufzeichnung der drei geistlichen Werke in der Basler Antoniuskirche: der Chiese di Assisi, des Psalm 102 und 27 für Alt, Oboe und Orgel und des Psalm 142 für Sopran und Orgel (Mitwirkende: Barbara Hensinger, Alt; Chelsea Zurflüh, Sopran; Matthias Arter, Oboe; Matthias Wamser, Orgel; Gerald Hahnefeld, Tonaufnahmen, Schnitt und Mastering; Beatrice Wolf-Furrer, Produktion & Copyright). Die CD ist Ende Januar 2021 herausgekommen und kann bei mir über marnac@besonet.ch zum Preis von 20 Franken bezogen werden.

Konzerte

2019 organisierte ich, diesmal selbstständig, ein zweites Vokalkonzert. Es enthielt vier Zyklen (Sechs türkische Lieder für Bariton und Klavier, Sieben Lieder für Sopran und Klavier, Six fables de Lafontaine pour baryton et piano, Sources du vent. Sept mélodies pour soprano et piano), von denen drei im Original von Kammerorchester, einzelnen Instrumenten oder grossem Orchester begleitet sind und nur einer ursprünglich für Stimme und Klavier geschrieben ist. Der Komponist hat allerdings im Hinblick auf kleine Säle für alle drei Klavierversionen eingerichtet, um sie schneller bekannt zu machen. Die beiden Zyklen nach Texten französischer Autoren waren mir wichtig, damit ich auf seine Affinität mit dem französischen Sprach- und Kulturkreis hinweisen konnte: Der zweijährige Kontrapunktunterricht, den Walter Furrer in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts an der Pariser Ecole normale de musique bei Nadia Boulanger absolviert hatte, bestimmte die Entwicklung seiner Kompositionsweise ein für alle Mal.

Dieses zweite Vokalkonzert hatte am 6. Oktober im Basler Schmiedensaal Premiere (Mitwirkende: Delia Haag, Sopran; Benjamin Widmer, Bariton; Tomasz Domanski, Klavier). Es folgten weitere Aufführungen am 6. November 2019 im Bieler Farelsaal (Mitschnitt durch das Tonstudio Gerald Hahnefeld) sowie am 15. März 2020 in Kirchlindach (reformierte Kirche; Walter Furrer ist auf dem dortigen Friedhof begraben). Den Sopranpart hatte inzwischen die Bieler Nachwuchssängerin Chelsea Zurflüh übernommen.

Und dann brach Corona über uns alle herein, und die beiden folgenden Konzerte am 22. März und am 26. Mai 2020 wurden untersagt. Ich verhandelte wochenlang über neue Termine und Lokale – umsonst! Bis es mir schliesslich doch noch gelang, die beiden Veranstaltungen unter strikten Bedingungen (zahlenmässig beschränktes Publikum, Maskenzwang) am 1. November im Langenthaler Bären und am 5. Dezember 2020 im Konservatorium Bern zu «absolvieren». Übrigens mit Bravour! Das jeweils sozusagen handverlesene Fachpublikum wusste es der Künstlercrew zu danken.

Das Jahr 2021 wird vorwiegend folgenden Projekten gewidmet sein:

• der bereits erwähnten Drucklegung von Tamara Ackermanns Masterarbeit;

• der Herstellung von Werbematerial zur Oper Zwerg Nase. Parallel dazu wird eine konzertante Darbietung eines Querschnitts durch die Oper (mit Klavierbegleitung) einstudiert. Beides hat den Zweck, Theater in der Schweiz sowie in Deutschland für das Werk zu interessieren. Es wird erwogen, die genannte Darbietung nach Möglichkeit auch als dramatisches Vokalkonzert aufzuführen;

• der Herausgabe eines Ergänzungsbandes zu meinem Biografischen Abriss. Diese Veröffentlichung wird nur Quellentexte enthalten wie z. B. Äusserungen Walter Furrers über seine Kompositionen, seinen ungekürzten autobiografischen Aufsatz Meine Studienjahre in Paris, aber auch Korrespondenzen, sofern sie die kompositorische Arbeit betreffen, etc. Der Berner Musikverlag Müller & Schade AG – nunmehr von Urs Ruprecht geleitet – verlegt den Band.

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