Robert Walser vertont

Roman Brotbeck erzählt und analysiert auf immer wieder neue Weise, wie Walsers Dichtung von 1912 bis 2021 in Musik gebracht wurde.

Gern wüsste man, wie wohl der Wanderer Schoeck die Texte des Spaziergängers Walser, seines Zeitgenossen, vertont hätte. Aber offenbar haben sie einander nicht wahrgenommen, so wie überhaupt die Nicht-Rezeption mancher Schweizer Kunst inhärent scheint. Die intensive Rezeption Walsers durch die Musiker beginnt ohnehin erst lange nach seinem Tod – wenngleich es Ausnahmen gibt. Und von ihnen erzählt Roman Brotbeck in den ersten Kapiteln seines dicken Buchs: Wie 1912 ein vergessener Berliner Komponist und Kritiker (James Simon) bereits zwei Gedichte vertonte. Wie ein in Biel wirkender Chorleiter (Wilhelm Arbenz) mit drei Liedern zu einem anderen Tonfall fand. Wie ein in die Schweiz immigrierter Komponist (Wladimir Vogel) Walser-Texte missverständlich zum Künstlerdrama umformte. Erst mit Urs Peter Schneider beginnt eine kontinuierliche und höchst fruchtbare Walser-Beschäftigung, die sich in diesem Fall über ein halbes Jahrhundert hinzieht und einen eigentlichen, äusserst facettenreichen Kosmos entstehen lässt.

Es sind Rezeptionsgeschichten, die Brotbeck hier auf fundierte Weise erzählt. Er analysiert, aber nicht erbsenzählend. Vielmehr lässt er die Details sprechen und arbeitet die Kontexte heraus. Freilich reicht das kaum aus, um die schier exponentiell wachsende Zahl der Walser-Vertonungen zu fassen. Deshalb variiert Brotbeck die Darstellung auf erfinderische Weise, so dass man sich ob der Aufzählung nicht müde liest, sondern neugierig weiterfährt. Einzelne Kapitel sind zum Beispiel Heinz Holliger, dem prominentesten Vertoner, gewidmet sowie dem Greco-Franzosen Georges Aperghis, der sich in seiner Berner Zeit mit Walser, Paul Klee und Adolf Wölfli auseinandersetzte. Je ein Kapitel beschäftigt sich mit Opern nach Walser-Romanen sowie weiteren Dramatisierungen. Dann wiederum greift Brotbeck ein einzelnes Gedicht heraus, das kurze «Beiseit», und stellt es in 21 Vertonungen vor. Und so weiter. Den Schlusspunkt setzen unaufgeführte/unausgeführte Projekte von Johannes Fritsch und Hans Zender.

Dahinter steht – sonst würde es langweilig und man würde dieses Buch nur noch als Nachschlagewerk benutzen – ein ungemeiner Reichtum an Analysemethoden, die auf rein musikalischer Ebene zugreifen, aber auch die Beziehungen zum Wort erhellen, die Dramatisierungen mit ihren Hintergründen beleuchten und schliesslich auch Walser selber einschliessen. Der Dichter als «sein eigener Komponist»: Diesem Thema ist das Eingangskapitel gewidmet. Lautfolgen, polyfone Konstellationen, vertrackte Rhythmen finden sich in den Texten, sie zeigen Walser als äusserst bewussten, hinhörenden Gestalter – trotz der scheinbar beiläufigen Leichtigkeit, die seine Texte immer wieder haben.

Die Publikation, die vom Nationalfonds unterstützt wurde, ist also ein Kompendium, um das niemand herumkommt, der in Zukunft über Walser-Vertonungen forscht. Abgeschlossen kann sie naturgemäss nicht sein, denn weiterhin wird Walser vertont, und vielleicht gibt es auch noch Entdeckungen in der Vergangenheit zu machen. Kurz vor der Drucklegung erhielt Brotbeck den Hinweis auf ein Lied, das der Illustrator und Amateurkomponist Marcus Brehmer einst sogar in Berlin den Brüdern Karl und Robert Walser vorspielte und vorsang, was, wie er schreibt, «eine wunderbar sublime, ganz unirdische Gemeinsamkeits-Stimmung bewirkte». Das Lied scheint verschollen, aber wir können uns seine Wirkung aufs Schönste ausmalen.

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Roman Brotbeck: Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021, 660 S., € 79.00, Brill Fink, Paderborn 2022, ISBN 978-3-7705-6686-0, Open Access

Foto oben: Wikimedia commons

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